Zeitreise

Mannheim als Autometropole der wilden Zwanziger

Dass Carl Benz 1886 in Mannheim das Auto erfunden hat, weiß – fast – jeder. Doch vor hundert Jahren war die Quadratestadt sogar eine Autometropole. Neun Hersteller bauten hier Fahrzeuge, wie jetzt ein Oldtimerliebhaber erforscht hat

Von 
Peter W. Ragge
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Ein Bugatti aus Mannheimer Produktion vor der (erst im April 2022 abgerissenen) Einfahrt Neckarauer Straße/Tor Hasenackerstraße (alle Bilder aus dem Buch und von Dietrich Conrad nachcoloriert). © Verlag Waldkirch

Mannheim. Er versteht, dass man zweifelt. Bugatti, eine der erfolgreichsten und edelsten Sportwagen-Marken – aber hergestellt in Mannheim? „Das weiß heute kaum noch jemand“, ahnt Dietrich Conrad, „ich bin ja auch erst darauf gestoßen.“ Aber tatsächlich werden Wagen der elsässischen Nobelmarke 1922 in Neckarau produziert, im Werk der Rheinischen Automobilbau AG (RABAG).

Und nicht nur Bugattis entstehen in der Quadratestadt. Mannheim sei „die Autometropole der wilden Zwanziger“, sagt Conrad – mit derart vielen Herstellern, dass er dazu sogar ein Wort kreiert, mit dem er seine Forschungsarbeit und letztlich auch sein Buch dazu betitelt: „Mannopolis“ nennt er Mannheim – in Anlehnung an den berühmten Roman von Thea von Harbou 1925 und den danach von Fritz Lang gedrehten Stummfilm von 1927. Aber im Film geht es um eine monumentale wie fiktive futuristische Stadt, doch die Autoproduktion in Mannheim ist Realität, „wenn auch leider weitgehend verschüttet und kaum dokumentiert“, bedauert Conrad.

Heim als Auslöser

Der Maschinenbautechniker und Wirtschaftsinformatiker ist durch Zufall darauf gestoßen. Als Oldtimer- und Motorsportfan hat er vor über zwei Jahren entdeckt, was nur wenige Lindenhöfer wussten: Dort, wo die Stadt Mannheim ihr neues Technisches Rathaus errichtet hat, produziert von 1920 ab die „Badische Automobilfabrik Heim & Cie“ des ehemaligen Benz-Lehrlings und späteren Benz-Rennwagenfahrers Franz Heim. Conrad sammelt und dokumentiert alles über Heim, den er „Mannheims vergessene Legende“ nennt. Und danach lässt ihn das Thema nicht mehr los.

„Heim war der Auslöser, und dann habe ich erst gemerkt, was es noch alles in Mannheim gab und was weitgehend vergessen ist“, erklärt Conrad. „Aber einige Spuren sind da, und wenn man gräbt, stößt man auf immer mehr“, sagt er – also hat er gegraben, letzte Zeitzeugen befragt, in Archiven gestöbert, viele Jahrgänge von Automobilzeitschriften und Kataloge durchforstet sowie zahlreiche bislang unveröffentlichte Bilder besorgt, um zurückzuschauen in die große Zeit der Automobilproduktion in Mannheim.

Start beim Grand Prix

Deren Zentrum sei in den 1920er Jahren zwar in Berlin gewesen, und in ganz Deutschland habe es nach der Erholung vom bis 1918 dauernden Ersten Weltkrieg eine Gründungswelle gegeben. „Ausländische Fahrzeuge sind unbezahlbar geworden durch die schlechte Wechselkursentwicklung und hohe Zölle“, erklärt Conrad. Eine „einzigartige Aufbruchstimmung“ sei daraus überall entstanden, „aber Mannheim hat durchaus mithalten können – schon wegen Carl Benz war das hier ein ganz wichtiger Standort mit großer Innovationsbereitschaft“.

Der Fulmina-Direktionswagen 1926 (alle Bilder aus dem Buch und von Dietrich Conrad nachcoloriert). © Verlag Waldkirch

Carl Benz selbst produziert Autos bald nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr in Mannheim. Sein zunächst nach der Erfindung gegründetes Unternehmen „Rheinische Gasmotorenfabrik Benz u. Cie.“ erfordert wegen der steigenden Produktionszahlen immer mehr Kapital und wird daher zur Aktiengesellschaft. Es kommt zum Streit. 1903 verlässt Benz das Unternehmen, bleibt indes stiller Teilhaber und zieht 1904 bis zu seinem Tod in den Aufsichtsrat ein. 1906 gründet er in „Ladenburg bei Mannheim“, wie er in allen Anzeigen schreibt, die „Fa. C. Benz Söhne“ und stellt dort erst Motoren und ab 1907 auch Autos her.

Sein ehemaliger Lehrling Franz Heim arbeitet da noch für die ursprüngliche Benz-Firma und macht sich erst 1911 mit einer Autowerkstatt in der Neckarstadt selbstständig, woraus sich eine große Automobilfabrik in der Lindenhofstraße entwickelt. Mit bis zu 180 Mitarbeitern konstruiert und produziert Heim hier Sport- wie Tourenwagen, Sechssitzer und Limousinen. Zwölf Stück pro Monat fertigt seine Mannschaft – darunter viele ehemalige Benz-Angestellte. 1822 startet er gar beim Grand Prix in Monza. „Aber er scheitert wegen Motor- und Getriebeproblemen“, so Conrad, und das sei auch der Anfang vom Ende der Firma Heim gewesen. Der Ersatzteilbestand und ein Teil der Belegschaft wird von der Mannheimer Aurepa Fahrzeug-Reparaturwerkstatt, die als Firma bis zu Beginn der 2000er Jahre existiert, übernommen.

Wie Heims Unternehmen überlebt kaum einer der einst schillernden Mannheimer Automobilproduzenten, von „Union“ und „Rhemag“ über „Badenia“ bis zu Schütte-Lanz. Laut Conrad liegt das einmal an der gewaltigen Inflation ab 1923 und zudem an der Handarbeit – die sich einfach nicht mehr rentiert: „Günstige amerikanische Fahrzeuge aus der Serienproduktion fluten den Markt, was zu einem Preisverfall führt. Das übersteht letztlich keine der hiesigen Automobilfirmen“.

Wobei es einen Namen zumindest umgangssprachlich heute noch gibt – sprechen doch Bewohner der Mannheimer Stadtteile Friedrichsfeld und Seckenheim weiter von der „Fulmina“, wenn sie das noch existierende Werk der früheren Deutsche Perrot-Bremse, ab 1994 Teil vom Wabco-Konzern, meinen.

Zu eng fürs Hoftor

Die Anfänge indes liegen in Käfertal, in der Bahnhofstraße 1. Dort gründet Carl Hofmann – erst sein Vater, nach dessen Tod sein älterer Bruder sind Vorstände der Eichbaum-Brauerei – mit dem Benz-Ingenieur August Grau eine Firma. Der Firmenname „Fulmina“ leitet sich vom lateinischen Wort für Blitze ab. „Latein ist damals eben angesagt“, so Dietrich Conrad augenzwinkernd. Schmunzelnd erzählt er auch die Legende, dass das erste in Käfertal produzierte Auto zu breit für die Hofeinfahrt gewesen sei und das Tor entfernt werden muss, damit es überhaupt auf die Straße kommt. Aber da überzeugt es – mit 25 PS erzielt es bis zu 80 Stundenkilometer.

Das Erinnerungsbild an die erste RABAG-Bugatti-Testfahrt 1922 (alle Bilder aus dem Buch und von Dietrich Conrad nachcoloriert). © Verlag Waldkirch

„Die Wagen haben bald den Ruf solider handwerklicher Qualität“, weiß Conrad, und auch die ebenso dort hergestellten Ölheizungen sind gefragt. 1913 erfolgt daher der Umzug nach Friedrichsfeld, aber dann beginnt der Erste Weltkrieg. Danach dauert es über ein Jahr, bis die Autoproduktion wieder richtig losgeht, doch immer noch größtenteils in Handarbeit. „Da es noch keine elektrischen Bohrmaschinen gibt, geht man mit Handbohrmaschinen ans Werk“, hat Conrad alten Unterlagen entnommen. Aber die Luxuskarossen aus Friedrichsfeld finden Abnehmer bei Aristokraten, Direktoren, fahren als Taxis und sie werden sogar nach Schweden exportiert.

1922 entsteht, nach dem Rückzug des Gründers, die Fulminawerk AG als Aktiengesellschaft und noch 1923 präsentiert sie sich erfolgreich auf der Berliner Automobilausstellung. Laut einer von Dietrich Conrad ausfindig gemachten Geschichte ist es eine Autopanne, die den eigentlich nach Heidelberg fahrenden Vertreter der französischen Firma Perrot-Bremsen, Monsieur Calvinac, zum Halt in der Nähe des Friedrichsfelder Fulmina-Werks zwingt. Die daraus entstehenden Verhandlungen haben Erfolg, nach fast einem Jahr erhält Fulmina die Lizenz für Perrot-Bremsen. Derweil wird unter Führung von August Grau die Ölfeuerungssparte abgespalten, aber Grau gründet bald auch die Heidelberger Firma „Grau-Bremse“ für Nutzfahrzeug-Bremsen – die immerhin, zuletzt als Teil vom schwedischen Haldex-Konzern, bis 2020 existiert.

Ein Wirtschaftskrimi

Fulmina hat schon viel früher keine Zukunft in seinem Metier. „Günstige Serienfahrzeuge führen zu einem Preisverfall, der die ganze Branche in Bedrängnis bringt“, fasst Conrad zusammen. Fulmina-Automobile hätten zur Mitte der 1920er Jahre „keine nennenswerten technischen Neuerungen vorzuweisen, mit Ausnahme der Bremsen und des verbesserten Motors“. Die Firma habe sich aber „rechtzeitig umorientiert, denn als reines Automobilwerk konnte sie nicht bestehen“. Ab 1926 wird daraus die Firma Perrot-Bremse. Der letzte bekannte Fulmina-Wagen sei 1955 bei Heidelberg verschrottet worden, bedauert Conrad.

Dagegen hat ein in Mannheim hergestellter Bugatti in Einzelteilen die Wirren der Zeit überstanden – und ist jetzt, wieder zusammengefügt, im Technik Museum Sinsheim zu sehen. Wie Bugatti nach Neckarau kommt, das hat für Dietrich Conrad Züge eines Wirtschaftskrimis. 1909 trennt sich die Kölner Deutz AG von Ettore Bugatti, der dort als Chefingenieur arbeitet. „Einer der fähigsten Automobilkonstrukteure seiner Zeit“, findet Conrad. Mit einer hohen Abfindung und der Hilfe eines befreundeten Bankiers gründet Bugatti in Molseim im Elsass seine eigene Firma, und schnell setzt sich sein kleiner, leichter Sportwagen bei großen Rennen durch.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs schließt Bugatti sein Werk, damit es nicht Teil der deutschen Rüstungsindustrie werden kann. Nach Kriegsende aber erholt sich die Firma schnell, so Conrad. Sie erzielt Erfolge bei Rennen und sucht, um an Kapital zu kommen, nach Lizenznehmern.

Besucher-Tipps

Buchvorstellung: Bei der Buchmesse Schwetzingen, bei der am 12. und 13. November von 11 bis 17 Uhr im Südzirkel des Schlosses 30 Verlage der Region von Belletristik über Krimis bis zu aktuellen Sachbüchern präsentieren, stellt Dietrich Michael Conrad am Sonntag, 13. November um 11.40 Uhr seine Recherchen und sein Buch „Mannopolis“ vor.

Das Buch: Dietrich Michael Conrad, „Mannopolis“, Hardcover, 176 Seiten, Querformat, Verlag Waldkirch, ISBN: 978-3-86476-167-6, 28 Euro.

Besichtigungen: Im Original erhalten und zu besichtigen sind nur wenige der in Mannheim hergestellten Automobile. Doch wer sich generell für das Thema interessiert, findet in der Region gleich fünf passende Museen.

Automuseum Dr. Carl Benz: 68526 Ladenburg, Ilvesheimer Straße 26, geöffnet Mittwoch, Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 14 bis 18 Uhr, über 100 Fahrzeuge, Erinnerungen an Carl Benz und Motorsport in der historischen Benz-Fabrik.

Technoseum: 68165 Mannheim, Museumsstraße 1, geöffnet täglich von 9 bis 17 Uhr, Sechs Themenräume zum Automobilbau.

Technik Museum Sinsheim: 74889 Sinsheim, Eberhard-Layher-Straße 1, täglich von 10 bis 18 Uhr, 300 Oldtimer aus allen Epochen.

Technik Museum Speyer: 67346 Speyer, Am Technik Museum 1, geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr, auch Oldtimer, aber Schwerpunkt Nutzfahrzeuge, Lokomotiven, Flugzeuge.

Museum Autovision: 68804 Altlußheim, Hauptstraße 154, geöffnet donnerstags, freitags und sonntags von 10 bis 17 Uhr sowie samstags 13 bis 17 Uhr, Zeitreise durch die Mobilität vom Fahrrad bis zum Wasserstoffauto, große Bugatti-Sammlung. pwr

Derweil gibt es in Mannheim-Neckarau die Unionwerke, eigentlich spezialisiert auf Brauerei-Abfüllanlagen. Während des Ersten Weltkrieges müssen sie aber für das Heer Lkw produzieren. Nach dem Krieg will man diese Sparte nicht ganz aufgeben, sondern „am boomenden Kleinwagenmarkt in Deutschland teilhaben, der große Gewinne verspricht“, so Conrad. Das sei „die große Stunde von Ingenieur Hans Birk“. Er entwickelt das Kleinauto „Bravo“ und präsentiert es 1920 auf der Frankfurter Automobilmesse.

Alles selbst gebaut

Aber Birk will mehr. Er verhandelt mit einem Düsseldorfer Konsortium, um Bugatti-Fahrzeuge in Lizenz herzustellen. Wie genau es zur Verbindung zwischen dem elsässischen Fabrikanten und den Düsseldorfern gekommen ist, sei „leider nicht bekannt“, gesteht Conrad, „aber sehr wahrscheinlich haben Birk und der Düsseldorfer Bugatti-Vertreter und Rennfahrer Alfred Noll die Finger im Spiel“, sagt er. Daraus entstehen zwei Aktiengesellschaften: Die in Düsseldorf übernimmt den Vertrieb und den Karosseriebau, die Rheinische Automobilbau Mannheim (RABAG) stellt Chassis und Motoren bei den Unionwerken in der Neckarauer Straße her. „RABAG lic. Bugatti“ heißt es groß auf Plakate.

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„Im Unterschied zu anderen Lizenznehmern werden keine Original-Motoren oder Teile von Bugatti verwendet, sondern alles in Eigenregie gefertigt“, so Conrad: „Es handelt sich also tatsächlich um Bugattis aus Neckarau“, betont er. Im Herbst 1922 sind die ersten Bugattis aus Mannheim fahrbereit. „Ein starker Auftritt“, schließt Conrad aus alten Unterlagen, wonach die Presse Technik und Fahrverhalten gelobt habe. Das Fahrzeug habe sich zudem an unzähligen Rennen beteiligt und sei „in seiner Klasse fast nicht mehr zu schlagen“ gewesen.

Stinnes und das Ende

Doch die Ära endet trotz aller Erfolge. Der Industrielle Hugo Stinnes aus dem Ruhrgebiet, damals einer der reichsten Männer Europas, kauft die RABAG – stirbt aber kurz darauf 1924, mitten in der Wirtschaftskrise. „Im Mannheimer Werk rumort es“, entnimmt Conrad zeitgenössischen Schilderungen. Die Verkaufszahlen gehen deutlich zurück, es gibt Streiks, Aussperrungen, Kündigungen und vergebliche Versuche, das Unternehmen zu retten – da die Banken nicht mitspielen und Staatshilfe ausbleibt.

„Mehrere tausend Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel, obwohl die Firma eigentlich konkurrenzfähig ist“, merkt Conrad kritisch an. Ende 1925 kommt es zum Konkurs. Birk gründet mit einem ehemaligen Kollegen am bisherigen Sitz in der Neckarauer Straße ein Unternehmen für Reparatur und Wartung von Bugattis, stellt 1926 sogar aus restlichen, von ihm angekauften Fahrzeugteilen die letzten Bugattis aus Neckarau her. Heute erinnert auf dem einstigen Firmengelände zwischen Neckarauer Straße und Hasenackerstraße nichts mehr an die einstige Bugatti-Tradition – hier sind nun Parkplätze von Supermärkten und die BMW-Niederlassung.

Redaktion Chefreporter

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