Mannheim. Üblicherweise besteht eine Lesung darin, dass Texte zu Gehör gebracht werden. Das passiert auch bei Jürgen von der Lippe im vollen Mannheimer Capitol. Gleichwohl hat das begeisterte Publikum das Gefühl, eine Comedy-Show zu erleben – eben „Sit-up“ statt „Stand-up“. Auch wenn das Komiker-Urgestein seinen Auftritt nahezu unbeweglich an einem Tisch verbringt, so geht es mächtig ab: Pointen schlagen in lakonischen Geschichten Purzelbäume. Wortspiele lassen die Sprache tanzen. Und zwischendrin reitet der 76-Jährige politisch unkorrekt Attacken gegen Gendern und „Woke-Wahn“.
Ja, er kommt im Hawaiihemd, diesmal erstaunlich dezent, mit Papageien auf schwarzem Grund. Und ja, er liebt nach wie vor Anzügliches. Seinem Credo „Die Gürtellinie ist eine fliegende Grenze, die von Generation zu Generation neu definiert werden muss“ frönt er zur Freude seiner Fans lustvoll schlüpfrig. Und obendrein mit Nietzsche-Zitaten intellektuell aufpeppend.
„Sextextsextett“ lautet das aktuelle Buch. Darauf muss man erst einmal kommen: aus Text über Sex und einem musikalischen Sechs-Mensch-Ensemble einen Titel zu komponieren, der kurios klingt, aber den Inhalt komplett trifft. Vermutlich sitzen im Saal auch Männer und Frauen, die „Sextextsextett“ bereits gelesen haben. Auch sie bekommen Überraschungsgags. Schließlich bezieht der Mittsiebziger zwischen Glossen und Geschichten das vor ihm sitzende Publikum in seine „Stuhl-up-Comedy“ ein. So lässt er sich zu jenem Körper-Maskulinum, das einst Goethe als „Meister“ beschrieb oder mit dem lateinischen „Iste“ für „Der da“ umschrieb, Kosenamen zurufen. Und die reichen von Hans im Glück bis zum Rumpelstilzchen. Und der „Mann ohne Unterleib“ – jedenfalls sticht auf der Bühne im Wesentlichen der Oberkörper des Hawaiihemdträgers ins Auge – steuert von anderen Lesungen die „Raupe Nimmersatt“ bei. Das Publikum tobt.
Von der Eisdiele als Flur im Iglu
„Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren“ hat der Spitzzüngige gleich zu Anfang begrüßt – mit spöttischem Seitenhieb auf die „Tagesschau“, die im letztjährigen November die vertraute Anrede kippte. Gleich einem roten Faden zieht sich durchs Programm, dass von der Lippe nichts von identitätsgerechten Bezeichnungen hält. Und so entführt die Geschichte von der „Schneeschwuchtel“, die einen tiefgefrorenen Lachs als Mordwaffe durch Auftauen entsorgt, zu Eskimos – „nee, ich spreche nicht von Inuits“. Und wer hätte gedacht, dass in einem Iglu der Flur „Eisdiele“ heißt.
Jürgen von der Lippe steht mit seinen Fans „Du auf Du“. Und so gibt es bei dem einen oder anderen Hardcore-Gag allenfalls ein „Ui Jui Jui“ und nie ein „Buh“. Gleichwohl schätzt der Komiker die Unterscheidung zwischen Sie und Du. Wenn jemand auf der Straße rufe: „Äh Jürjen, wie jeht et dich?“, dann lasse er das nur durchgehen, „weil die Person dringendere Sprachprobleme hat“.
Man mag seine Witze wie Wortgefechte amüsant finden oder auch nicht. Nach einer Beifallstürme auslösenden Lesung geht einem durch den Sinn: „Donnerlippchen!“, wie schafft das Jürgen von der Lippe?
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