Internationales Filmfestival

Sich und anderen fremd werden: „Noviembre“ und „Blue Heron“

Von elementaren Fremdheitserfahrungen erzählen im Filmfestival-Wettbewerb „On the Rise“ die Filme „Noviembre“ und „Blue Heron“.

Von 
Thomas Groß
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Szene aus dem Wettbewerbsfilm „Blue Heron“. © Nine Behind Productions

Mannheim. Fremdheitserfahrungen sind elementar, und sie sind es noch umso mehr, je mehr Migration, also irgendwo wegzugehen und woanders hoffentlich auch gut anzukommen, zu einer gängigen Lebensform wurde. Im Festival-Wettbewerb „On the Rise“ behandelt dieses Phänomen auch der ungarisch-kanadische Beitrag „Blue Heron“ (Blauer Reiher). Die Regisseurin Sophie Romvari, die selbst ungarische Wurzeln hat, erzählt in ihrem Spielfilmdebüt von einer Familie, die in den 1990er Jahren von Ungarn nach Kanada auswanderte.

Wie ein Mensch sich und anderen zunehmend fremd wird

Im Mittelpunkt steht die kleine Sascha, aus deren Perspektive man miterlebt, wie das Ankommen sich kindlich-leicht vollziehen kann und wie es auch misslingen kann. Letzteres zeigt sich am Beispiel ihres älteren Halbbruders Jeremy; er widersetzt sich mehr und mehr den familiären und gesellschaftlichen Ordnungen, er stiehlt, verletzt sich und gefährdet auch andere - und wird so anderen und wohl auch sich selbst zunehmend fremd. Jeremys leibliche Mutter ist überfordert, der Stiefvater ratlos, und die Geschwister müssen lernen, sich in einer Krisensituation zu behaupten.

Poetische Momente wechseln mit nüchtern erzählten Episoden. Sozialarbeiter besuchen die Familie und raten schließlich dazu, Jeremy in eine Pflegefamilie zu geben. Das erfährt man auf einer zweiten Zeitstufe des Films, in der sich Sascha, inzwischen eine junge Frau, an die erwähnte Familiensituation zurückerinnert. Sie versucht, die Ereignisse von damals für sich aufzuarbeiten - und sich so mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zu versöhnen, in der sie einen ihr nahestehenden Menschen verloren hatte.

Eine Szene aus dem dramatischen Spielfilm „Noviembre“. © Burning Pictures

Versonnen und doch sachlich ist diese Geschichte erzählt, spannend und aufreibend wirkt dagegen das Drama „Noviembre“. Auch hier führt die Geschichte in die Vergangenheit, nach Kolumbien und in die Mitte der 1980er Jahre. Eine Guerilla-Gruppe besetzt in Bogota, der Hauptstadt des von bewaffneten Konflikten erschütterten Landes, den Justizpalast, der alsbald von Militär umstellt wird und gestürmt. Im Gebäude sind mit den Guerilleros auch Justizbeamte eingeschlossen, die verzweifelt um eine Verständigung mit den Geiselnehmern und eine Befriedung der Situation ringen. Doch keiner hier traut dem jeweils anderen über den Weg. Worte wie „Prinzipien“, „Mäßigung“, „Verhandeln“ und „Wir brauchen Dialog“ werden gerufen - und verhallen ungehört, als das Militär zum Gegenschlag ansetzt.

Die Gewalt muss überwunden werden

Der Regisseur Tomás Corredor, ein gebürtiger Kolumbianer, der heute in Schweden lebt, behandelt in seiner internationalen Koproduktion ein authentisches Ereignis und verarbeitet in seinem Film auch historisches Archivmaterial. Auch hier geht es um Fremdheitserfahrungen. Wenn sie übermächtig werden und keiner mehr weiß, wem er noch vertrauen kann, scheint eine gewaltsame Entladung unvermeidlich.

Doch klar bleibt ebenso und steht gleichsam über den dramatischen Bildern zu lesen: Ohne Mäßigung und den Willen zur Verständigung wird es keinen gemeinsamen Weg und Ausweg geben. Das ist in politisch verfahrenen Situation nicht viel anders als in stark belasteten Familien.

Infos : www.iffmh.de

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

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