Internationale Schillertage

Michel Friedman: „Die Weidels und Höckes sind nicht mal schlechte Lehrlinge“

Michel Friedman begeistert mit seiner „Mannheimer Rede Spezial“ vor ausverkaufter Kulisse mit provokanten und reflektierten Inhalten.

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Michel Friedman am 25. Juni 2025 bei der "Mannheimer Rede Spezial" im Rahmen der Internationalen Schillertage im Alten Kino Franklin in Mannheim. © Christian Kleiner

Mannheim. „Ach, Herr Friedman, ich höre nicht auf zu hoffen, dass ich Optimist bin.“ Diesen wunderbar melancholischen Satz sagte der in Heidelberg aufgewachsene Bestseller-Autor Bernhard Schlink neulich in Frankfurt zu Michel Friedman, als der ihn fragte, ob Schlink ein Optimist sei. Und hört man dem Philosophen, Publizisten und Ex-CDUler Friedman jetzt bei seinem Vortrag im Rahmen der Internationalen Schillertage zu, so klingt er ganz ähnlich: Gegen Ende dieser bislang wohl eindrücklichsten aller zwölf Mannheimer Reden laviert Friedman nämlich zwischen zwei Polen hin und her: der positiven Bilanz all dessen, was wir als Gesellschaft geschafft haben, und der Beschreibung der verheerenden Zustände im Land mit geschlagenen Kindern, Kindern, die kein Deutsch lernen, mit vergewaltigten Frauen, zu wenig Personal an maroden Schulen, überforderten Eltern und vielem mehr. Das geschehe hunderttausendmal, schließt er, „und solange uns das nicht zerfetzt, sollten wir sehr zurückhaltend sein, wenn wir sagen: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Danke schön.“

Oberbürgermeister lobt Friedmans streitbare Redekunst

Rauschender Applaus. Das Alte Kino Franklin kocht. Und die finalen Worte sitzen sicherlich auch beim in Reihe eins sitzenden Oberbürgermeister Christian Specht, der Friedman hinterher als „streitbaren Redner“ bezeichnet, „der für unsere Debattenkultur unheimlich wichtig ist“.

Michel Friedman und die 13. Mannheimer Rede

  • Michel Friedman ist ein deutscher Jurist, Publizist und Fernsehmoderator. Er wurde 1956 in Paris geboren und lebt heute in Deutschland. Friedman ist bekannt für seine Arbeit in den Medien und sein gesellschaftliches Engagement.
  • Er war unter anderem Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland . In der Öffentlichkeit trat er häufig als streitbarer Diskussionspartner auf. Seine Positionen zu gesellschaftlichen und politischen Themen sorgen regelmäßig für Debatten.
  • Friedman ist zudem als Autor tätig. In seinen Veröffentlichungen setzt er sich mit Fragen zu Integration, Erinnerungskultur und Antisemitismus auseinander.
  • Zur 13. Auflage der Debattenreihe „Mannheimer Rede“ kommt am 15. Juli mit der 1976 in Erfurt geborenen Katja Wolf (BSW / früher Die Linke) die thüringische Ministerin für Finanzen und Stellvertreterin des Ministerpräsidenten ins Alte Kino Franklin.

Was wir geschafft haben, lässt er nicht unerwähnt: „Wir haben es doch geschafft. Frauen dürfen heute arbeiten, ohne dass der Ehemann den Vertrag mit unterschreibt. Die Vergewaltigung in der Ehe ist nicht mehr straffrei. Die Abtreibung sollte endlich aus dem Strafgesetz raus, aber sie ist jedenfalls nicht mehr illegal. Schwule Menschen müssen in letzter Zeit zwar wieder mehr Angst bekommen, auch in unserem Land. Aber alles in allem immer noch besser als in Amerika oder in Ungarn, Russland oder Iran.“

Stolz auf den Erfolg: Schauspielintendant Christian Holtzhauer (l.), Michel Friedman und Christof Hettich, Vorsitzender des Vorstands der SRH Holding. © Christian Kleiner

Der rhetorische Optimismus ist von kurzer Dauer. Schnell kehrt er zu seinem Motto „Weil Menschen Menschen sind“ zurück: Wer sind wir? Was macht uns aus? Was bedeuten die Menschenrechte, wenn nicht, dass jeder ein Jemand ist und keiner ein Niemand! Und da fällt seine Bilanz nicht gut aus, denn der Egoismus sei groß. „In der so alten Gesellschaft, in der ich lebe und zu der ich gehöre“, sagt er, sei es parteipolitisch und machtpolitisch kein Wunder, dass die Belange der Zukunft, und das ist die Jugend, eher vernachlässigt würden, und die Fragen der Vergangenheit, also des Alterns der Menschen, als Mittelpunkt der Gegenwart betrachtet würden: „Das verändert die Gesellschaft, das verändert den Diskurs, das verändert die Schwerpunktsetzung. Deswegen diskutieren wir über unsere sichere Rente mehr als über die unsichere Zukunft der Jugend.“

Friedman spricht 47 Minuten. Frei! Vielleicht liegen Notizen vor ihm. Man weiß es nicht. Es ist beeindruckend. Pure Konzentration. Er bildet lange, verschachtelte Sätze, nutzt Partizipialkonstruktionen, Relativsätze, Einschübe, lässt Teile komponierter Verben am Satzende wie beiläufig in den Saal purzeln. Friedman lässt aber oft auf lange viele kurze und gleich gebildete Sätze folgen, spielt also mit Tempo und Wiederholung, wenn man so will: Im Vortrag steckt viel Musik, spielt er doch mit Rhythmus, Melodie, Wiederholung, Timing. Und wenn er sagt, „Wir! Streiten! Nicht! Genug!“ , so zieht er das auf fünf Sekunden auseinander, um auf die Wichtigkeit der Streitkultur hinzuweisen.

Ein Redner zwischen Provokation und Selbstreflexion

Dass der Ex-TV-Moderator tatsächlich auf Krawall gebürstet ist, beweist er sofort im Dialog mit Schauspielintendant Christian Holtzhauer, den er etwas unwirsch auflaufen lässt. So ist er. Direkt. Unverblümt. Und, ja, mit einem Hauch Arroganz ausgestattet. „Ich glaube, dass das jetzt keine sehr intelligente Antwort braucht. Die demokratischen Parteien haben es nicht ausreichend verstanden, was zu verstehen ist“, sagt Friedman auf Holtzhauers Frage, was er den demokratischen Parteien zurufen würde, was sie versäumt hätten in den vergangenen Jahren?

Er erwähnt die Selbstherrlichkeit des Abendlandes und weist darauf hin, dass die europäische Geschichte eine der Kriege, der Barbarei, des Blutes sei. Der 30-jährige Krieg. Zwei Weltkriege. Die Shoah. „Sind wir wirklich die Spitze der Zivilisation und der Kultur“, fragt er und erinnert daran, „dass die Chinesen vor 3000 Jahren die Mathematik und Medizin erfunden haben, nicht wir“.

Michel Friedman (4.v.l.) spricht im Anschluss an seine Mannheimer Rede vom 25. Juni 2025 mit Schülern. © Christian Kleiner

Sich selbst hat er durchaus schon als ängstlich bezeichnet, Urvertrauen kenne er nicht, hat er mal gesagt, er sei auf einem Friedhof aufgewachsen, „auf dem die Schatten und Geister von 50 von den deutschen Nationalsozialisten ermordeten Familienmitgliedern flüsterten“. In Mannheim bezeichnet sich der 2003 wegen Kokainkonsum Verurteilte als fehlerhaft („Ich habe so viele Fehler gemacht. Einige sind öffentlich geworden.“) und traurigen Menschen.

Friedmans mitreißende Wirkung durch emotionale Rede

Trotzdem stürmt aus dem 69-Jährigen plötzlich ungebremster Optimismus. Er bekomme Impulse, sagt er und zählt auf: „Ja, es gibt die KI, ja, es gibt Robotik, ja, es gibt die digitale Welt, aber es gab auch mal das Auto und es gab auch mal das Buch.“ Das Buch sei anfangs von der Kirche verpönt worden: „Wissen Sie, warum? Je mehr Menschen gelesen haben, desto weniger haben sie dem Papst geglaubt. Oder dem Rabbiner.“ Kutscher hätten Autos mit Kot beworfen, weil es das Ende der Droschken war, „und ja: Wir erleben, dass in unserem Leben vieles zu Ende gehen wird, aber wir sehen, dass Neues kommen kann, und bevor andere das für mich gestalten, möchte ich es mitgestalten und in Freiheit mitgestalten und in Widerspruch mitgestalten, weil Mensch Mensch ist und weil Mensch kann, wenn er will.“

In solchen Momenten strömt, knistert es. Menschen nicken. Menschen sagen zustimmend „Mhmm“. Das liegt an den Inhalten selbst. Es liegt aber auch daran, dass Friedman nicht nur klug und eloquent rüberkommt, sondern auch menschlich, indem er Gefühle von sich anspricht, ja, sogar zeigt, indem etwa seine Stimme die Farbe ändert. Das gab es in dieser Form in der vom ehemaligen Schauspielintendanten Burkhard C. Kosminski und dem Vorsitzenden des Vorstands der SRH Holding Christof Hettich initiierten Reihe so noch nicht.

Der Saal war ausgebucht bei der Rede von Michel Friedman. © Christian Kleiner

Zur Menschlichkeit trägt auch das thematische Springen bei. „Ganz ehrlich gesagt, ich habe die Original-Nazis kennengelernt“, so Friedman, „dagegen sind die Weidels und Höckes nicht mal schlechte Lehrlinge.“ Lachen. „Aber wir haben es irgendwie geschafft. Irgendwie haben wir es doch geschafft. Es ist nicht vorbildlich. Es ist nicht konsequent. Es gibt unendlich viele Rückschläge. Aber wir haben es doch geschafft.“

Im Gespräch mit dem Publikum bekennt sich Friedman dann auch zur Kultur: Ohne Kultur gebe es kein Menschsein, sagt er: „Und wenn in diesen Zeiten – in denen wir uns gerade befinden, wo das Barbarische, das Einheitliche, das Verrohte im Vordergrund immer weiter kommt und vor allem junge Menschen erreicht – politische Kräfte statt Kulturbudgets zu erhöhen, sie stagnieren lassen oder abbauen, dann haben sie nicht die Wahrheit der Stunde begriffen.“ Auch so ein Satz dürfte dem OB in Zeiten schrumpfender Steuereinnahmen gut im Gedächtnis haften. Das spricht für diesen ganzen, diesen großen Abend mit den wichtigsten Themen unserer Zeit und einem Optipessimisten.

Michel Friedman wurde zu Beginn auch von Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht begrüßt. © Christian Kleiner

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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