Ludwigshafen. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Richard David Prechts zum geflügelten Wort mutierte Frage hat den Schweizer Autor Max Frisch schon Mitte des vergangenen Jahrhunderts umgetrieben. Seine Absage an festgelegte Rollenbilder gipfelt in der Aufforderung „Du sollst dir kein Bildnis machen“ – nicht vom anderen, nicht von der Welt, nicht von dir selbst.
So sucht der Ich-Erzähler in Frischs drittem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ angesichts der traumatischen Erfahrung, von der Geliebten verlassen worden zu sein, nach der entsprechenden Geschichte. Entwirft Identitäten. Probiert sie an wie Kleider, die Möglichkeiten bieten, Wirklichkeit anders zu gestalten. „Ich stelle mir vor: ein anderes Leben“- Leitmotiv einer Versuchsanordnung.
Meisterhafte Bühnenadaption begeistert im ausverkauften Pfalzbau
Regisseur Oliver Reese hat aus dem disparat, kaleidoskopartig erzählten, thematisch wie stilistisch noch immer modern anmutenden Roman eine Bühnenfassung für einen Schauspieler destilliert. Matthias Brandt, großer Meister der kleinen Geste – Ende der Neunzigerjahre Mitglied des NTM-Schauspielensembles – scheint sie wie auf den Leib geschrieben. Das Gastspiel des Berliner Ensembles im Rahmen der Festspiele Ludwigshafen geriet im ausverkauften Pfalzbau zum Ereignis.
Matthias Brandt
- Der 1961 geborene Matthias Brandt ist der jüngste Sohn von Willy Brandt und dessen norwegischer Frau Rut.
- Unter Schauspieldirektor Bruno Klimek war er Ende der Neunzigerjahre am Nationaltheater Mannheim engagiert .
- Einem breiten Fernsehpublikum ist er u.a. als Hanns von Meuffels aus der Serie „Polizeiruf 110“ bekannt.
- Nach 20 Jahren Bühnenabstinenz kehrte er 2022 mit der Produktion „Mein Name sei Gantenbein“ ans Berliner Ensemble zurück.
- Neben zahlreichen Film- und Fernsehrollen tritt er auch als Hörbuchsprecher und Autor („Raumpatrouille“, „Blackbird“) in Erscheinung. Auch beim Festival „Enjoy Jazz“ ist er gern gesehener Gast.
Im zeitlos abstrakten, gummizellenartigen Raum von Hansjörg Hartung mit Musik, die an Filme der sechziger Jahre erinnert, entfacht Brandt ein Feuerwerk an Schauspielkunst. Schlüpft in die männlichen Identitäten von Svoboda, dem betrogenen Ehemann, von Enderlin, dem zögerlichen Wissenschaftler und Gantenbein, der als vermeintlich Blinder Welt und Frauen durchschaut. Scheinbar mühelos gelingt es ihm auch, die nach Geschichten gierende Manicure Camilla Huber sowie die promiskuitive Schauspielerin Lila (wohl Frischs zeitweiliger Lebensgefährtin Ingeborg Bachmann nachempfunden) präsent zu machen.
Die Kunst des Erzählens in Aktion erleben
Im hundertminütigen Monolog zieht Brandt alle Register: Mimisch, gestisch, körperlich, stimmlich. Kleidungsstücke wirft er weg wie Requisiten, Symbole für verworfene Lebens-Optionen. Faszinierend das Miterleben der allmählichen Verfertigung der Geschichten beim Erfinden, die Suche nach Worten und Erinnerungen.
Man sieht ihm zu beim Denkvorgang an sich. Was immer wieder erheitert. Besonders wenn sein Gantenbein, bewaffnet mit Blindenbrille, Stock und Armbinde, die Selbstinszenierungen seiner Mitmenschen entlarvt, dabei jedoch Fehler macht, die ihn eigentlich selbst als Sehenden entlarven müssten. Doch in der selbstgewählten Rolle fühlt er sich zunehmend festgelegt. Seiner Freiheit beraubt. Verzweifelt. Großartig auch, wie durch Akzentuierung weniger Worte das überkommene Frauenbild der sechziger Jahre ironisiert wird.
Matthias Brandt: Meister der subtilen Ausdruckskraft
Matthias Brandt seufzt, stammelt, stottert, schnieft, wütet, lacht – auch mal irre –, fuchtelt mit den Händen in der Luft, greift zu großen Gesten, durchmisst den ausweglosen Raum. Die stärkste Wirkung jedoch erzielt er, wenn er sich auf seine charismatische Präsenz verlässt, auf sein traumwandlerisch sicheres Timing, seine intensive Ausdrucksfähigkeit auch in der kleinsten Reaktion. Wenn er einfach so da steht, introvertiert, die Hände tief vergraben in den Hosentaschen, die Schultern ratlos zuckend, und sinniert: Was wäre, wenn ich ein anderer wäre? Große Begeisterung.
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