Das Wichtigste in Kürze
Das Mannheimer Ensemble Industrietempel zeigt die Performance „Final Coal Sparkling“ am Hockenheimring.
Die Inszenierung betrachtet das fossile Zeitalter aus der Zukunft und nutzt feine Ironie.
Die Zuschauer erleben archaische Rituale mit Feuer und fossilen Brennstoffen.
Metropolregion. Wir befinden uns im Jahr 2228. Der Klimawandel hat den Meeresspiegel derart ansteigen lassen, dass weite Teile der Erde unbewohnbar geworden sind. Was also macht der findige Mensch? Er bezieht eine Schiffskabine und lässt sich all-inclusive-versorgt auf einer lebenslangen Kreuzfahrt über die Weltmeere schippern. Den Kurs bestimmen Hagelstürme und andere Naturkatastrophen, denen es auszuweichen gilt. Für Abwechslung zwischen den Seetagen sorgt das attraktive Ausflugsprogramm von Noa-Tours. Sehr beliebt bei kulturell und historisch interessierten Kreuzfahrern ist der Landgang zu einer der schönsten Inselgruppen Deutschlands, mitten hinein ins Gebiet der stolzen Kurpfalz-Indigenen, mit der Exkursion zu einer sagenumwobenen Kultstätte: dem Hockenheimring.
Es ist ein hintersinniges Setting, das der Mannheimer Verein Industrietempel für seine aktuelle Produktion „Final Coal Sparkling“ gewählt hat. 1989 von einer kleinen Gruppe um Thomas Reutter gegründet, hat es sich der lose Verbund von Kreativen der Region zur Aufgabe gemacht, außergewöhnliche Projekte an außergewöhnliche Orte zu bringen. Waren es zunächst vor allem stillgelegte Industrieanlagen, in denen die interdisziplinären Performances stattfanden, kamen im Lauf der Jahre immer mehr andere Räume hinzu. Schon bei früheren Produktionen waren die Industrietempler dem Prinzip gefolgt, aus der Zukunft zurück auf unsere Gegenwart zu blicken. Ende 2023 war im Technischen Rathaus Mannheim in der Ausstellung „Meritokratie“ die heutige Leistungsgesellschaft aus der Perspektive von morgen zu besichtigen. 2022 hatte Reutter gemeinsam mit der Regisseurin Antje Reinhard in „Tanktempel AWF33 – eine archäologische Führung“ in der Waschanlage von „Mr. Wash“ in Mannheim den heutigen Kult ums Auto aus dem Blickwinkel staunender Ethnologen späterer Jahrhunderte beleuchtet.
Publikum wird Zeuge von angeblichen archaischen Ritualen
Im Science-Fiction-Schauspiel „Final Coal Sparkling“ knüpfen Reutter (Text und Idee) und Reinhard (Regie) ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit feiner, zum Schmunzeln und Nachdenken anregender Ironie direkt an dieses Spektakel an und machen das Publikum zum Teil der rund zweistündigen Inszenierung. Als abenteuerlustige Landgänger werden sie Zeugen eines archaischen Rituals, mit dem Schamanen dem Zeitalter der fossilen Brennstoffe huldigen und, befeuert von Benzin, Diesel und Kerosin als den magischen Stoffen des Petro-Zeitalters, den Glauben an grenzenloses Wachstum und den Zauber des Lebens im Hier und Jetzt beschwören.
Der Industrietempel e.V.
Seit 1989 bespielt der Mannheimer Verein „Industrietempel“ unter dem Motto „Außergewöhnliche Projekte an außergewöhnlichen Orten“ stillgelegte Industriegebäude in der Metropolregion Rhein-Neckar, aber auch Autowaschanlagen, Müllheizkraftwerke oder den Antikensaal des Mannheimer Schlosses mit interdisziplinären künstlerischen Performances und Installationen.
Die aktuelle Science-Fiction-Produktion „Final Coal Sparkling“ wirft mit feiner Ironie einen aufschlussreichen Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart.
Informationen, auch zu möglichen weiteren Vorstellungen, gibt der Verein online auf www.industrietempel.de
An der „Anlegestelle“ am Mannheimer Kunstverein warten zwei „historische“ Gelenkbusse der RNV. Zwei Reiseleiterinnen in pinkfarbenen Hosenanzügen und kniehohen Gummistiefeln (Nora Berger und Pia Keßler) bereiten die Teilnehmer behutsam auf ihre erste Begegnung mit den Indigenen vor. Auf der Fahrt hinaus aus der Stadt machen sie auf „gut erhaltene Autostraßen“ aufmerksam und vermitteln Einblicke in die Lebensart der Menschen im Touristen-Hotspot Mannheim. Ein bisschen trotzig, verschroben, aber sehr freundlich und liebenswert seien die anpassungsfähigen, Entbehrungen gewohnten Bewohner der „Stadt der 1.000 Dämme“ mit ihrem Überseehafen. Die Damen raten zur Vorsicht beim Kauf und Genuss heimischer Äpfel und erläutern kundig die Mythen, die sich um den 2108 entdeckten „Ring“ ranken. Dass die Busse bei der Uraufführung wegen einer Sperrung auf der A6 einen Umweg fahren müssen, wird spontan und sehr souverän ins Stück integriert. Und für sein ungeplantes Rangiermanöver erhält der „für Extremlagen geschulte Busfahrer“ der RNV einen Sonderapplaus.
Am Ring angekommen, werden die Kreuzfahrer am Fuß der dunkel aufragenden Osttribüne von mystischen Lichtern und rituellen Gesängen empfangen. Die formidable A-cappella-Version der Kurpfälzer Madrigalisten macht den Country-Song „Ring of Fire“ zur ergreifenden Hymne. Bei der folgenden, Funken schlagenden Show des Trios „Finyx Fire“ aus Limburgerhof lodert, raucht, qualmt und stinkt es in den Nachthimmel: Zwei Hohepriesterinnen mit brennendem Kopfschmuck schwenken glühende Kugeln, während Kevin Rigby mit brennenden Fackeln jongliert, gierig Feuerstäbe schluckt und so das ungezügelte und hemmungslose Verfeuern fossiler Kraftstoffe feiert.
„Eine Art kollektive Katharsis von der Scham um die Schuld am Untergang“ attestierten Experten des 23. Jahrhunderts diesem Brauch, erklärt die Reiseleiterin während der Rückfahrt lakonisch: Nur mit einer „kollektiv antrainierten, kognitiven Technik“ könne es möglich gewesen sein, „das drohende Unheil so vollkommen zu ignorieren“.
Für die sehenswerte Performance gibt es begeisterten Applaus.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-regionale-kultur-mannheimer-theaterprojekt-reise-aus-der-zukunft-ins-fossilzeitalter-_arid,2316145.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html