Ludwigshafen. Angst und schlechtes Gewissen sind immer da. Kreisen im Kopf. Die katzenartige Sphinx mit den breiten Schwingen verfolgt König Laios von Theben, dieser leidgeprüften Polis. Wo, wann und von wem droht die Gefahr? Wer trägt die Verantwortung für Thebens Schicksal? Weiß König Laios, dass er an jenem bestimmten Tag an der Wegscheide vom eigenen Sohn Ödipus ermordet werden wird? Erkennt er den totgeglaubten, einst ausgesetzten Sohn? Ist Laios nur Täter oder auch Opfer? Wo und wann beginnt die Schuld? Fragen über Fragen. Aber überraschenderweise auch Antwort-Angebote im Pfalzbau Ludwigshafen, wo das Deutsche Schauspielhaus Hamburg mit seiner vielfach ausgezeichneten „Laios“-Produktion vor vollem Haus gastiert und auf ein enthusiasmiertes Publikum trifft.
Dramatiker Roland Schimmelpfennig ist mit dem zweiten Teil seiner fünfteiligen „Anthropolis“- Serie, 2023 in der Regie von Karin Beier (Bühne: Johannes Schütz, Dramaturgie: Sybille Meier) herausgekommen, ein genialer Theatertext gelungen über eine von den griechischen Dramatikern eher vernachlässigte Figur. Viele Stimmen kommen da zu Wort, in erfrischend lapidarer wie witzig vertrauter Alltagssprache. Assoziativ, scheinbar spontan werden alternative Sichtweisen erzählt, Varianten erwogen, durchgespielt und wieder verworfen. All das Komplizierte, Vertrackte, Rätselhafte, Grausame wird dadurch derart greifbar, dass der komplexe Labdakiden-Mythos daherkommt wie eine gut gemachte Netflix-Familien-Miniserie. Nachvollziehbar, etwas derb und brutal, aber witzig und spannend. Theatralischer Wurf für ein Publikum von heute.
Stimme klingt anschließend hörbar beansprucht
Getoppt wird das Theaterereignis durch die unvergleichliche Lina Beckmann. Ganz allein schmeißt sie den Abend. Hat alles im Griff – das gesamte antike Personal auf der Bühne - angedeutet durch ein paar Masken am Stiel, einen Stier und ein imaginiertes Motorrad – sowie das Publikum davor. In schwarzer Hose und weißem Shirt braucht sie dazu allenfalls eine Halbmaske mit Schnurrbart, einen schwarzen Umhang und ein bisschen Farbe, die sie sich ins Gesicht schmiert. Und natürlich ihre Stimme (die im anschließenden Nachgespräch hörbar beansprucht klingt), ihre Augen, den Körper. Über begnadete Artikulation, schlafwandlerisches Timing und atemberaubende Präsenz verfügt sie ohnehin.
Neunzig dichte, aufregende Minuten lang wechselt sie permanent Stimme, Sprache, Mimik, Haltung und Bewegung. Changiert zwischen den Charakteren. Zeichnet den Titelhelden als ausgesetztes Kind, als präpotenten jungen Mann, der sich nimmt, was er will (nämlich den jungen Chrysippos), als distanzierten Herrscher von Theben, als irritierten Zauderer, nachdem das Orakel von Delphi ihm hustet, dass sein Sohn ihn töten und Ehefrau Iokaste schwängern werde. Ein Kabinettstückchen unter vielen: der Sprecher des Rats von Theben mit leichtem Ruhrpottakzent, ernsthaft engagiert, herrlich komisch.
So wird der ganze Mythos verständlich
Beckmann kommuniziert, improvisiert, flirtet mit dem Publikum. Kommt scheinbar willkürlich vom einen zum anderen, fabuliert, erklärt, unterbricht den Gedankenfluss, pantomiert, kriecht, tanzt, verbiegt sich. Sucht nach Worten, verbessert sich, schweift ab, schwingt Reden, singt. Vollblutmimin durch und durch. Man glaubt, den Mythos verstanden zu haben.
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