Mannheim. Der Anfang vom Ende des Mannheimer Maifeld Derbys am Freitag unterstreicht noch einmal nachdrücklich, warum das Indie-Pop-Festival nach 15 Jahren auch international einen so hohen Stellenwert hat: Tag eins zeigt nicht nur die beeindruckende stilistische Vielfalt von Künstlerinnen und Künstlern, die man ohne dieses nichtkommerzielle, unabhängige Event wohl nie in der Quadratestadt zu sehen bekäme.
Der Spielplan betont das noch zusätzlich, indem er parallel auf zwei Bühnen fast permanent totales Kontrastprogramm bietet – elfeinhalb Stunden lang.
Vielfalt der Gefühle und Klänge beim Abschied vom Maifeld Derby
Gegensätzlich sind auch die Gefühle, die den Auftakt zum 14. Derby prägen: Auf, vor und hinter den vier Bühnen paart sich Wehmut mit enormer Euphorie, die vor allem die Auftritte von Zaho de Sagazan und dem „geheimen Headliner“ Kraftklub auslösen – aber auch unter anderem die Shows von DJ, Koze, Warhaus um Balthazar-Frontmann Maarten Devoldere, Kate Bollinger oder Yerai Cortés – mit französischen, Electro-Chansons, deutschem Power-Punkpop, DJ-Hochkultur, Indie-Rock, Songwriterinnen-Ästhetik und Flamenco.
Es gab aber auch Rap mit Trompete, Hardcore, Disco-Fusion und Kulinarik im Deichkind-Stil von der Mannheimer Band Lauch Creme Gruppe, die bereits um 14.30 Uhr bei gleißendem Sonnenschein als erster Act den letzten Akt dieser Festival-Preziose einleiten. . Während die in Mannheim verankerte, selbst erklärte „foodaffine Autotune-Boyband“ mit einem so humorvollen wie rasanten, zwischen Hip-Hop, Elektro, Pop und Rock die Sparten sprengenden Auftritt den Konzertreigen eröffnet, hüllen die US-amerikanische Musikerin Salami Rose Joe Louis und ihre Band die Open-Air-Bühne gleichsam in einen kosmischen Nebel: Aus Space-Jazz, Noise und kühlen elektronischen Sphärenklängen formt das Trio eine spannungsgeladen schäumende Soundwelt, in der sich Fans von CocoRosie und Björk gleichermaßen bestens aufgehoben fühlen dürfen. Nach einer ungewöhnlich kühlen, heutzutage erfreulich regnerischen Woche spielt auch das Wetter absolut mit.
Fast war es zu heiß. Bevor Kraftklub kurz vor 22 Uhr etwas früher als geplant die Open-Air-Bühne entern, wirken nicht wenige schon etwas ermattet, dafür gibt es wohl kein besseres Gegenmittel als ein auf eine Stunde konzentriertes Festival-Konzert der fünf Chemnitzer. Der Anfang von „Fahr mit mir (4x4)“ beginnt elektronisch, dann machen Kraftklub aus im Prinzip einfachsten musikalischen Mitteln das Maximum: Harte Gitarrenriffs, treibende Bassläufe, wuchtiges Schlagzeug, eingängige Refrains und messerscharfe Dynamikwechsel tragen den steten Wechsel von Felix Kummers Rap-Strophen, dem Lead-Gesang von Gitarrist Karl Schumann und inzwischen ziemlich harmonischen Chören.
Menschenfischer-Qualitäten wie der junge Westernhagen
Schon bei „Wie ich“ und dem selbstironischen „Teil dieser Band“ sind Kraftklub-Fans und Neugierige gleichermaßen gefangen – es herrscht beständige Vollversammlung neben dem Palastzelt, das Kontrastprogramm Eeje de Visser hat es auf der Parcours.d‘Amour-Bühne im Reitstadion nicht leicht. Erst dann kommt mit „Ich will nicht nach Berlin“ aus dem Geburtsjahr des Maifeld Derbys (2011) der erste Klassiker, der zwangsläufig völlig abräumt.
Das hat auch viel mit dem ungebrochenen Charisma von Frontmann Felix Kummer zu tun, dessen Menschenfischer-Qualitäten mitunter an den jungen Westernhagen erinnern. Der Spross einer Kulturfamilie (Bruder Till spielt Bass, seine kleinen Schwestern Nina und Lotta gehören zur feministischen Vorzeigeband Blond) findet danach die wohl passendsten Worte zum Derby-Aus, auch zwischen (etwas) Wehmut und viel Euphorie.
„Wir sind ein wenig neidisch auf euch, dass ihr die Gelegenheit habt, dieses wundervolle Festival würdig zu verabschieden“
Der 35-Jährige erinnert daran, dass Kraftklub mit dem Kosmonaut bei Chemnitz selbst von 2013 bis 2019 ein unabhängiges Festival veranstaltet haben, das die Pandemie nicht überlebt hat. „Das war nicht ganz so tasty wie hier, mit nicht so gutem Geschmack“, lobt er die Arbeit von Veranstalter Timo Kumpf über den grünen Klee. Und ergänzt empathisch mit Blick auf dessen jahrelange Selbstausbeutung am Rande des Burn-Outs: „Das war auch ein Struggle. Wir können das nachfühlen.“ Das wendet er postwendend ins Positive: „Wir hatten nicht die Chance, ein letztes Festival zu machen (…) wir sind ein wenig neidisch auf euch, dass ihr die Gelegenheit habt, dieses wundervolle Festival würdig zu verabschieden. Feiert es noch mal!“ Am Ende folgt der Appell, solche rar werdenden Veranstaltungen zu unterstützen.
So erklärt sich auch, warum diese inzwischen zu Stadionkonzerten tendierende Band von sich aus angefragt hat, ob sie beim letzten Maifeld Derby auftreten können. Dabei sind schon mehrere Konzerte der vor zwei Tagen angekündigten Tournee im Frühjahr 2026 ausverkauft. In der Frankfurter Festhalle wurde bereits eine Zusatzshow angesetzt, auch die Berliner Wuhlheide steht gleich zweimal auf dem Tourplan zum neuen Album „Sterben in Karl-Marx-Stadt“.
Neuer Kraftklub-Song „Schief in jedem Chor“ gefeiert
Das erscheint zwar erst im November, in Mannheim ist daraus schon das trotzige „Schief in jedem Chor“ zu hören – auch das wird auf Anhieb gefeiert und mitgesungen. Weitere Höhepunkte: „Schüsse in die Luft“, dessen „Nazis raus“-Botschaft auch ohne große Extraworte vom Publikum aufgenommen wird, und der ewige Abräumer „Randale“. Auch hier muss der Kraftklub-Sänger nichts sagen, fast alle Zuhörerinnen und Zuhörer vor der selten so gut besuchten Open-Air-Bühne gehen an der richtigen Stelle kollektiv in die Knie, um wie entfesselt aufzuspringen.
„Ein Song reicht“ feiert ansteckend die Liebe zur Musik, u.a. am Beispiel von Mike Skinner. Auch kein Zufall, dass der mit seiner Band The Streets 2019 einen ähnlich denkwürdigen Auftritt beim Derby hingelegt hat. Im wie immer ekstatischen Schluss- und Höhepunkt „Songs für Liam“ werden dagegen die Black Eyed Peas gedisst – zufälligerweise Co-Headliner des sehr kommerziellen Glücksgefühle-Festivaljahrmarkts im September auf dem Hockenheimring.
Zaho de Sagazans Erfolgsrezept: Dunkle Stimme in Electro-Chansons
Was soll darauf folgen, ohne krass abzufallen? Nun, tatsächlich ein noch besseres Konzert. Wobei man die Shows kaum vergleichen kann. Auch wenn sie zwei Seiten einer Medaille präsentieren, die durch höchste Intensität. Die französische Olympiateilnehmerin Zaho de Sagazan bestätigt jedenfalls alle Vorschusslorbeeren eindrucksvoll. Begleitet von zwei Klangtüftlern und einem Schlagwerker geht sie sofort mit zwei ihrer größten Hits in die Vollen: „Aspiration“ und „Les Garçons“ bringen ihr Erfolgsrezept auf den Punkt: Die Kombination aus klassischem Chansongesang mit variabler, tiefer Stimme und live extrem effektvollen Electro-Beats und Klangteppichen.
Wie viel die 25-Jährige dabei investiert, merkt man vor „Le Dernier Des Voyages“ an ihrer Kurzatmigkeit bei der ersten von vielen Ansagen auf Englisch. „Tristesse“ ist mit seiner subtilen Faithless-Energie schon jetzt einer der Festival-Höhepunkte. Aber sie verzaubert auch solo am Piano im weißen Lichtkegel mit fragilem Purismus – hier ist ein Teil des Publikums im Palastzelt unsensibel geschwätzig. Der gewaltige Applaus kompensiert das. Später könnte man in ähnlichen Momenten eine Stecknadel fallen hören. Viele sind den Tränen nah. Dabei kommt sie fast ohne Showeffekte aus: Das Bühnenbild wird von monochromen Farbwänden dominiert, meist eine Farbe pro Lied: Rot, Gelb, Blau, Schwarz. De Sagazan beginnt das Konzert im mondän klassischen 50er-Jahre-Outfit à la Bardot oder Barbara, die wie Gainsbourg – und Kraftwerk!- deutlich hörbar zu ihren Vorbildern zählt.
Man muss schon etwas nachdenken, wann zuletzt ein Pop-Act mit so viel Resonanz und Potenzial nicht aus Großbritannien oder den USA kam –Stromae? Schon ZAZ hat nicht diese potenzielle Breitenwirkung. Und Daft Punk oder Rammstein wurden schon in den 1990ern groß. Nicht nur deshalb ein denkwürdiger Auftritt – und typisch Maifeld Derby.
Großes Spektrum musikalischer Gegensätze
Aber wie gesagt, der enorme Kontrast zwischen Zaho und Kraftklub ist am Freitag Programm: Auch Pearl & The Oysters liefern sich mit Grenzkontrolle ein „Duell“ der Gegensätze: Da perlt dezent angejazzter Feen-Pop durchs Palastzelt, während auf der zum zweiten Mal aufgestellten Bühne beinharter Hardcore einen Abriss versucht. Ähnlich verhält es sich danach mit Kate Bollinger, die den voll besetzten Parcours d‘Amours mit großartigem Songwriterinnen-Pop mit Westcoast-Anmutung betört, während Nand in der prallen Abendsonne lakonischen Rap, der dumpf klingt, aber klug formuliert, mit NDW-Elektronica und Trompete kreuzt. Zimmer 90 ziehen im Palastzelt die Linie der weiblichen Ästhetik mit ziemlich cooler, tanzbarer Musik weiter. Danach hätte Katwarn eigentlich Muckeralarm auslösen müssen: Während auf der Freiliftbühne Donny Benet ziemlich viele Fusion und Funk,-Klischees nebeneinander türmt, löst der Flamenco-Virtuose Yerai Cortès im Reitstadion kleine Jubelstürme aus. Auf 14 Derbys war damit wohl so ziemlich jeder Musikstil zu hören.
Heimspiele für KALKYL und Die Glücksritter
Das Maifeld Derby bereitet traditionell aber auch lokalen Hoffnungsträgern eine Bühne: Ein Heimspiel bestreiten Musiker Phillip Soddemann und Popakademiker Tom Woschitz, die das Mannheimer Duo KALK¥L bilden, im erstaunlich früh erstaunlich gut gefüllten Parcours d‘Amour, wo die beiden Sänger und Gitarristen im heimeligen Barhocker-Ambiente akustischen Indie-Pop mit Soul und Beatles-Psychedelik verquicken. Und das machen sie – wie immer - souverän.
Postpunk und NDW und rannten seit ehedem Hand in Hand durch die grauen Häuserschluchten der Achtzigerjahre. Die Glückritter, gleichfalls in Mannheim beheimatet, destillieren daraus ein hochenergetisches gegenwärtiges Amalgam, das die Band auf der Arena-Bühne mit gehöriger punkrockiger Fehlfarben-Verve zum Klingen bringt. Auch davon möchte man gern mehr hören.
In die 2000er fühlen wir uns dagegen am frühen Abend versetzt, als wir das Palastzelt betreten: Dort lässt die Stuttgarter Formation Zimmer90 um Sänger und Keyboarder Joscha Becker sowie Bassist und Tasten- und Synthesizer-Operateur Finn Gronemeyer glitzernde Indietronic-Wirbel aufsteigen, die uns an Zeiten erinnern, in der Formationen wie die fabelhaften Briten Saint Etienne mit ihrer Musik das Clubleben und (überhaupt das Dasein) aufhellten. Längst haben sich Zimmer90, die 2023 mit „What Love Is“ einen viralen Hit landete, einen zugkräftigen Namen erspielt: Vergangenes Jahr gab‘s eine ausverkaufte Europatour, zudem führte sie eine Konzertreise auch auf den amerikanischen Kontinent. Und nun zu guter Letzt zum Maifeld Derby.
Rau, kratzig, schroff und direkt schlagen einem derweil die Songs von Library Card von der Arena-Bühne entgegen. Die niederländische Gruppe um Sängerin Lot van Teylingen steht dem Klangeindruck nach in der direkten Post-Punk-Tradition so legendärer Bands wie Wire, oder besser: Sie scheint diese Tradition lustvoll zu zertrümmern. Und das hört sich klasse an.
Warhaus: Ein Meister der musikalischen Schnittstellen
Wer von Traditionen spricht, darf von Warhaus nicht schweigen, die später abends im Palastzelt auf die Bühne treten: Deren Projektleiter, den belgischen Sänger, Gitarristen und Songschreiber Maarten Devoldere, kennt man nicht zuletzt durch seine Indie-Rock-Band Balthazar (an deren wunderbares Konzert vor elf Jahren im Heidelberger Karlstorbahnhof wir uns bis heute lebhaft erinnern). Für Warhaus begibt Devoldere sich an die musikalische Schnittstelle von Chanson-Barden, Folk-Psychonauten und Pop-Exzentrikern wie Leonard Cohen, Bill Callahan und Jarvis Cocker. Der Belgier erschafft hier nichts grundlegend Neues, aber mit welcher durchdringenden Brillanz er singt, spielt und seinen dunklen, betörenden Chanson-Schamanismus zelebriert, ist grandios.
Zur gleichen Zeit spielen mit dem britischen Duo Big Special eine der spannendsten Entdeckungen des vergangenen Musikjahres in der Arena: Sänger/Shouter Joe Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney aus Birmingham verbinden auf ihrem Debütalbum „Postindustrial Hometown Blues“ – und so nun auch live auf dem Festival – in der geistigen Nachfolge der Sleaford Mods oder auch Mike Skinners The Streets ein rohe, eruptiv—zynische Post-Punk-Energie mit zweifelnden Unterströmungen. Man weiß nie, ob man zu Songs wie „Desperate Breakfast“ tanzen oder verzweifeln soll. Aber beides fühlt sich im Fall von Big Special ziemlich gut an.
Wem Kraftklub, nun ja: zu klanglich kraftvoll daherkommt, findet parallel im Parcours d‘Amour mit Eefje de Visser ein entschiedenes Kontrastprogramm: Die niederländischen Singer-Songwriterin steht dort allein auf der Bühne und webt aus Stimme, E-Gitarre und elektronischen Soundeinspielungen eine nachgerade lunare, dunkel schimmernde und introspektive Popmusik.
Kopfhörerkonzert mit Kid Simius zu später Stunde
Das Publikum ist aber aufgeschlossen genug, sich auf der Arena-Bühne für härtere und Party-Töne mit lärmschutzfreundlichen Kopfhörern den Auftritt von Kid Simius anzuhören. Das findet trotz der Galavorstellung von de Sagazan viel Publikum. Ruhig, jedenfalls in von außen messbarer Dezibel-Hinsicht, geht es beim Auftritt von Maifeld-Derby-Intimus Kid Simius i zu. „Silent Disco“ nennt sich das längst verbreitete Konzept, das hier aufgegriffen wird. Meint: Das Publikum trägt Kopfhörer, auf die die Musik übertragen wird, die der spanische Produzent und DJ (der vor allem auch durch seine Kollaborationen mit dem Marteria-Alter-Ego Marsimoto bekannt sein dürfte) an seiner Soundstation kreiert. Eine nächtliche Ruhestörung wird somit vermieden, und es sieht auch durchaus apart aus, wie die Besucherinnen und Besucher mit blau oder grün leuchtenden Kopfhörern auf Ohren zu stiebenden elektronischen Dance-Tracks wie „Immer“ tanzen. Der Beat- und Bassdruck und damit die im Körper resonierende Schalldynamik einer klassischen Anlage wird dabei allerdings nicht erreicht.
DJ Koze lässt vielschichtig tanzen
Das gelingt zum Abschluss DJ Koze im Palastzelt, der ungewöhnlich viele Tanzende bis 2 Uhr morgens im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig bei der Stange hält. Ein bemerkenswertes Debüt, nachdem seine Sounds schon im Vorjahr beim Auftritt der vom Hamburger produzierten Art-Pop-Ikone Roisin Murphy zu hören waren.
Eine der großen Stärken des Derbys wird bei dieser Ausgabe beim Blick ins Publikum noch einmal überdeutlich: Hier kommen wirklich Generationen zusammen. bei dem familienfreundlichen Festival treffen die klassischen „jungen Leute“ auf Eltern mit Kindern in fast allen Altersstufen und älteres Publikum, das über 15 Jahre gelernt hat, dass man nicht jeden Namen kennen muss, um ein exzellentes Programm zu erleben.
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