Heidelberger Theatertage

„Iphigenies Rache“: Lilly-Marie Vogler schreibt Klassiker um

Lilly-Marie Vogler hatte keine Lust mehr auf eindimensionale Frauenrollen. Und hat das Solo-Theaterstück „Iphigenies Rache“ selbst geschrieben.

Von 
Frank Barsch
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Lilly-Marie Vogler in „Iphigenies Rache“. © Tom Leather Neumeier

Heidelberg. Mit klassischen Tragödien ist das so eine Sache. Vordergründig handeln sie von Familien, die auf eine besondere Art unglücklich sind. Gleichzeitig geht es um alles: den Staat, die Gesellschaft, ihre Werte und deren Geschichte. Mit ihrer Zeit und Familie hat es die Königstochter Iphigenie wirklich nicht einfach. Aber Familie kann man sich ja bekanntlich nicht aussuchen. Den Mythos, in dem sie gefangen ist, schon gar nicht.

Allerdings steht einem frei, wie man so ein Stück und seine Hintergrundgeschichte interpretiert. Die 26-jährige Lilly-Marie Vogler, Ensemblemitglied am Theater Regensburg, nimmt sich diese Freiheit, krempelt „Iphigenie in Aulis“ zu „Iphigenies Rache“ um und spielt den Klassiker von Euripides bei den Heidelberger Theatertagen in Grund und Boden: Iphigenie, anfangs ganz in Weiß zwischen antiken Ruinen, schmeißt Brautkranz, Opferkleid und Text hin. Sich für die Familienehre und das Vaterland opfern? So nicht! Eine kurze Drehung der Kulissen, eine schwarze Jogginghose, Iffi sitzt in ihrem Kinderzimmer.

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Eine andere Kulisse, eine andere Zeit, aber die gleiche Geschichte. Iffi fasst kurz mal zusammen: Familienfluch, Großvater hat die Götter beleidigt. Vater will immer das, was ihm nicht zusteht, hat die Mutter vergewaltigt, macht haltlose Versprechen, um an der Macht zu bleiben, rüstet für einen gigantischen Krieg gegen Troja, weil der coole Paris angeblich Helena, die Frau seines Bruders entführt hat. Und dann tötet er noch eine heilige Hirschkuh. Artemis revanchiert sich mit einer Flaute. Jetzt muss für etwas Wind ein Opfer her: Iphigenie.

Alles in allem eine böse Familie, die nicht reflektiert, was sie treibt. Oder von Iffi auf den Punkt gebracht: „In my family you don’t need an enemy.“ In ihrem Solo erzählt Lilly-Marie Vogler die Handlung und parodiert die beteiligten Figuren. Menelaos, ein daumenlutschender Jammerlappen, Kalchas, ein triefäugiger Feigling, der bei Blitz- und Donnersound die Forderungen der Götter zusammenstottert. Und Agamemnon: „Iphigenie für Helena? Das ist okay.“

Parodie über die vom Patriarchat verpfuschte Menschheitsgeschichte

Die Ehre ist die Ehre, das Weib sanft und still, der Mann strahlend und groß. Alter Grieche, hätte die Familie nicht einfach auf Nachkommen verzichten können? Aber das würde so etwas wie Reflexionsvermögen voraussetzen. Gefangen in ihrem Kinderzimmer wütet, singt und tanzt sich Iphigenie zwischen Teddys, einer gelben Plüschente, Büchern, einem Kassettenrekorder und einer Sanduhr mit schwarzem Sand durch ihre Familiengeschichte und die damit verbundenen Narrative: Ob „Father and Son“ von Cat Stevens oder „Väter“, eine Aufpeppung von Herbert Grönmeyers Männer-Hit, bis hin zum Sprechgesang – sie stürzt durch ihre persönliche Suche nach einem liebevollen Vater, zertrümmert verstaubte Diskurse und ersinnt einen poetischen Plan raus aus dieser Tragödiennummer: Wenn alle vernünftigen und mitfühlenden Menschen zusammen pusten, ergäbe das genügend Wind, um den Krieg zu verhindern.

Nach eineinhalb Stunden großartiger Parodie und witzig bis tiefgründigem Nachdenken über die vom Patriarchat verpfuschte Menschheitsgeschichte winkt eine utopische Lösung. Das Stück endet in der Schwebe zwischen Katharsis und Komik. Die Medien heucheln Verständnis, reden die Aktion aber nieder: zu radikal.

Freier Autor

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