Heidelberg. Heidelberg probt den Ausnahmezustand. Es strömt. Und strömt. Und strömt. Gefühlt Tausende wollen ihn erleben, den Meisterpianisten, Publikumsliebling und Co-Leiter des Heidelberger Frühlings: Igor Levit. Er ist da und strahlt – wie immer – diese seltene Mischung aus Weltanteilnahme, Intellektualität und Coolness aus. Die Menschen sind begeistert. Und tatsächlich: Es ist schwer vorstellbar, dass in New York, London, Berlin, Wien, Tokio oder sonst wo auf diesem Planeten mehr Fans zu einer Einführung in ein Konzertprogramm gehen wollen. Diese aber ist auch etwas ungewöhnlich und hat, ja, fast etwas von einer Audienz.
Ein musikalisches Gespräch im überfüllten Foyer
Im Heidelberg Congress Center (HCC) jedenfalls ist das weiße, ultrahohe und etwas brutalistische Hallenfoyer aus Beton total überfüllt, als Konzertdramaturg Anselm Cybinski mit Levit die Bühne betritt, um mit ihm über das Zentrum dieses titanischen Projekts zu sprechen: Serge Prokofjew, seine Kunst und die fünf Klavierkonzerte, die Cybinski in die Pianistenolymp-Erstürmer-Sprache überträgt und dort nicht grundlos als Achttausender bezeichnet. Es gibt einiges, aber nicht sehr viel, was pianistisch so anspruchsvoll ist. Wein, Worte und Wasser fließen, die Brezeln (mehr gibt es nicht im HCC) knuspern, und vorn erzählt Levit frei von der Leber von „Prokofjew und ich“ und technischen Problemen, die er mit einer Hand auch sogleich zu Klang werden lässt an einem Klavier, das keines ist, weil es digital funktioniert.
Schon hier merkt man, wie gern der Mann kommuniziert, der sich selbst als Online- und Offline-Aktivist bezeichnet, obwohl er mitunter auch so wirkt, als sei er etwas schüchtern. Später, am Klavier auf der Riesenbühne des Hauptsaals, wird er dann aber zur veritablen Rampensau, zu einem Bilderstürmer in Jeans, T-Shirt und Blouson. Eine Erkenntnis dieses dreitägigen Unterfangens mit dreimal rund 1600 Menschen ist: Levit scheint sich nirgendwo wohler zu fühlen als am Klavier vor Publikum. Wenn der exzellente Ivan Fischer, Bruder des ehemaligen Mannheimer GMD Adam, das exzellente Budapest Festival Orchestra (BFO) über die ersten 14 Takte des fünften Klavierkonzerts in Richtung Pianoeinsatz steuert, scannt Tastentiger Levit mit seinen Augen noch die ersten Reihen nach Gesichtern ab. Da ist keinerlei Nervosität. Da ist nur Lust.
Etwas Alptraumartiges ist in Prokofjews Musik immer dabei
Die Lust einer Naturgewalt. Denn mit welcher Selbstverständlichkeit, ja, Natürlichkeit, Levit die fünf Kolosse an den drei Abenden in den Saal katapultiert, ist schon sehr beeindruckend. Nur das Konzert in g-Moll (op. 16) spielt er dabei ohne Noten, und gerade hier, zu Beginn des Andantino mit seinem doppelgriffigen Fundament und der fast schon plakativen Diskantkantilene, gelingen ihm auch diese lyrisch erzählten Wundermomente am besten, die bei Prokofjew ja immer etwas Alptraumartiges haben, weil man weiß: Das Gefühl reiner Harmonie muss man genießen, denn es kann jeden Augenblick vorbei sein.
Igor Levit
- Igor Levit ist ein gefeierter Pianist, geboren 1987 in Gorki, Russland, der im Alter von acht Jahren nach Deutschland zog.
- Er studierte an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und machte sich schnell einen Namen in der klassischen Musikszene. Levit ist bekannt für seine technische Brillanz und tiefgründigen Interpretationen, besonders von Beethovens späten Sonaten und Bachs Werken.
- Er gewann zahlreiche Preise und ist nicht nur für seine musikalischen Fähigkeiten, sondern auch für sein gesellschaftliches Engagement bekannt. Levit setzt sich aktiv für Demokratie und Menschenrechte ein und erreichte während der COVID-19-Pandemie ein großes Publikum durch seine Hauskonzerte und Präsenz in sozialen Medien.
- Levit ist Professor an der Musikhochschule Hannover und Co-Leiter des Klassikfestivals Heidelberger Frühling .
Schon der Auftakt der Reihe ist großartig: Levit spielt die Konzerte Nr. 5 und 1, Prokofjews Frühwerk, das überschäumt von jugendlicher Freude an der Virtuosität, die sagt: Schaut mal, was ich alles kann! Insgesamt kommt Levit die unordentliche Welt Prokofjews entgegen, diese gnadenlose Motorik seiner immer wieder zusammenbrechenden Systeme, das oft ausgesetzte Glück, die Maschinerie einer, ja, entmenschlichten Welt ohne Gefühl, die Levit pianistisch aber quasi zu Fleisch und Blut und Tränen ergo Gefühl werden lässt - mit stupender Technik und einer Lockerheit, die ziemlich einzigartig ist. Levit wird da zu einem wahren Gefühlsüberwältigungsmonster. Wow!
Einer der am tiefsten gehenden Höhepunkte des Zyklus ist aber auch die Sinfonie Nr. 5, bei der Fischers Orchester über sich hinauswächst. Höchste Prägnanz, flexible Metrum- und Taktwechsel, kristalline Klanglichkeit und eine Energetik, die mit Wucht und dem Wissen um Prokofjews Willen, die Sinfonie (1944!) als „Lied auf den freien und glücklichen Menschen“ zu verstehen, einschlägt wie ein Meteor der Erinnerung an all die Schrecken, die zwischen 1933 und 1945 passiert sind – und heute drohen, vergessen zu werden. Dieses Orchester ist ein Phänomen: Man spürt eine hunderteinprozentige Identifikation der Menschen darin mit dem, was gerade passiert. Selbst wenn sie nicht musizieren, wenn Levit eine Kadenz spielt oder Zugaben (Schtschedrins „Humoreske“, Schostakowitschs Walzer-Scherzo aus den „Puppentänzen“), sind sie voll dabei, staunen, fühlen, wippen mit.
Was für ein Ding für den Heidelberger Frühling. Die drei ausverkauften Abende sind ein Volltreffer - und dass das Heidelberger Publikum diese Dröhnung modernistischer und am Ende ja gar nicht so leicht rezipierbarer Musik so euphorisch jubelnd aufnimmt, spricht tatsächlich für die Offenheit in der Stadt am Neckar, die gerade drei Tage im Ausnahmezustand erlebt hat.
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