Das Wichtigste in Kürze
- Der Pianist Igor Levit trat beim Heidelberger Frühling auf und spielte zweimal vor vollem Haus.
- Er interpretierte Prokofjew und Chopin, wobei er zum ersten Mal Chopin-Stücke spielte.
- Levit ist bekannt für seine Einspielungen und seine Aktivität in den sozialen Medien.
Heidelberg. Nach zwei Stunden soll das Solorecital von Igor Levit bereits ausverkauft gewesen sein. Ein zweiter Auftritt – mit denselben Stücken – wurde notwendig, die Neue Heidelberger Universitäts-Aula war auch bei diesem Vormittagskonzert bis auf den letzten Platz besetzt. Auch wenn es Levit-Fangemeinden mittlerweile auf der halben Welt gibt, ist die hiesige noch mal besonders anhänglich, und nicht nur, weil der Pianist beim Frühlings-Festival Künstlerischer Co-Leiter ist. Einer, der „Heimspiele“ bestreitet. Diesmal ist auch eine Zusatzattraktion geboten: Levit wendet sich Chopin zu, einem Komponisten, den er bislang meist gemieden hat. Warum?
Bevor es darauf eine Antwort geben kann, geht es indessen nochmals um Prokofjew. Levit hatte in der ersten Festspielwoche alle fünf Klavierkonzerte aufgeführt. Nun ist die letzte von Prokofjews neun Klaviersonaten dran. Sie wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg komponiert, der Widmungs-Pianist Swjatoslaw Richter soll zunächst von diesem C-Dur-Werk enttäuscht gewesen sein: Es plätscherte ihm allzu schlicht-gemächlich vor sich hin.
Konzertabend von Husten und Heiterkeit geprägt
Auch in der Heidelberger Aula will der Funke nicht recht überspringen. Ohnehin steht der Konzertabend im Hinblick auf die Publikumsgeräusche unter keinem allzu guten Stern, bisweilen wirkt es fast, als ob die Hustenkranken dieser Stadt eine Verabredung getroffen hätten. Manchmal scheinen sie sich gegenseitig anzufeuern. Levit scherzt über die Husterei schon während der Prokofjew-Aufführung, seiner Vertiefung in das Stück - das er vom Blatt beziehungsweise iPad spielt - dienen die Störgeräusche eher nicht, so viel ist klar. Was hinter der sich unscheinbar und freundlich gebenden Fassade der Sonate stecken könnte, ist nicht immer auszumachen. Das Finale freilich greift die kecke Heiterkeit der frühen Märsche von Prokofjew auf. Und derart „Manuelles“ ist bei Igor Levit stets in guten Händen.
Das erweist sich dann auch bei Chopin, zunächst in der f-Moll-Ballade. Was dem Stück, mit dem der Pianist laut Überschrift des Heidelberger Recitals zu „Neuen Horizonten“ aufbricht, noch ein bisschen fehlt, sind weite Spannungsbögen. Der erzählerische Gestus. Man meint deswegen in Igor Levits Interpretation eine gewisse Restdistanz zu spüren. Es ist ja noch fast der Anfang, und das letzte Wort wird diesbezüglich nicht gesprochen sein: Aber Chopin betreffend scheint sich Levit derzeit eher bei den Klassizisten einordnen zu wollen. Nicht bei den Gefühlsromantikern mit ihrem Hang zum Überschwang.
Von Beethovens Pathos zu Levits Brillanz
Das zeigt sich nach der Pause auch in der h-Moll-Sonate, und zwar diesmal außerordentlich stringent und überzeugend. Vorher aber wendet sich der Pianist vertrauten Sphären zu und spielt die „Pathétique“-Sonate seines alten Favoriten Beethoven. Wobei er Pathos meist mit Brio übersetzt und hauptsächlich im Kopfsatz imposante Temposchübe inszeniert, mit „orchestralem“ Tremolo im Bass: Der Komponist wird erstmals zum Klaviertitanen. Auch wenn Levit hier sympathisch nüchtern bleibt – und später, im berühmten liedhaften Adagio, ebenfalls mit den Gefühlen haushält.
Doch zum Meisterstück wird die h-Moll-Sonate von Chopin, der Levit zu erstaunlicher Geschlossenheit verhilft. Sie wirkt schon völlig durchgearbeitet und –konzipiert. Sogar in stark zerklüftetem Gelände, wie es sich manchmal im Kopfsatz auftut, findet sich ein vom Gestrüpp befreiter Weg. Die äußeren Bedingungen sind wieder keine leichten: als das Husten einer Dame förmlich detoniert – und sie mit einem Türenknallen aus dem Saal flüchtet. Im leisen Largo-Satz, versteht sich. Aber Levit überspielt das, und sein Steinway-Ton wird im Finale immer größer, selbstbewusster und bestimmender. Als ob sich alle Knoten, alle Zweifel lösen würden.
Mann für alle Medien
Igor Levit stammt aus Nischni Nowgorod , kam aber schon als Kind nach Deutschland und studierte unter anderem beim legendären Pädagogen Karl-Heinz Kämmerling an der Musikhochschule in Hannover – wo der 38-Jährige inzwischen selbst Professor ist.
Für seine Einspielung der späten Beethoven-Klaviersonaten wurde Levit rasch zu einem maßgeblichen Pianisten des noch jungen 21. Jahrhunderts ausgerufen. Mittlerweile hat er mit fast allen großen Sinfonieorchestern musiziert, besonders eng verbunden ist er dabei mit den Wiener Philharmonikern (und Christian Thielemann).
Geradezu berühmt ist Levit überdies für seine öffentlichen Einmischungen und seine Präsenz in den sozialen Medien . Er tritt zwar inzwischen etwas kürzer, aber seine Stimme ist noch keineswegs verstummt: Die Empathie der Deutschen nach dem Angriff der Hamas auf Israel etwa erschien ihm unzureichend. HGF
Levits Heidelberger Fangemeinde ist nach der brillanten Vorstellung natürlich aus dem Häuschen. Und er selbst sagt nach dem Abebben des Jubels zu dem Hustenvorfall nur, dass so etwas nun mal passieren könne. Einer, der bei anderer Gelegenheit auch ungeduldig werden kann, ist hier ein Stoiker, der weise lächelt. Seine Zugabe aber ist eher ernst: das „Kaddisch“ von Maurice Ravel, nach alten Vorbildern. Man kann es auch als jüdisches Gebet für die Verstorbenen verstehen. Das ist auch der Unterschied zum Vormittagskonzert: Dort hieß die Zugabe „Der Dichter spricht“, die letzte aus den 13 „Kinderszenen“ Robert Schumanns.
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