Mannheim. Zu den schönsten Passagen im literarischen Kosmos des Österreichers Thomas Bernhard gehört, wie er in „Wittgensteins Neffe“ die Perversion von Preisverleihungen beschreibt. Bei denen gehe es, so Bernhard, nie um die Auszuzeichnenden, sondern immer um die Auszeichner, die sich mit den Auszuzeichnenden nur selbst schmücken. Den Mannheimer Schillerpreis hat Bernhard nie bekommen. Er hätte sein Weltbild auch schnell korrigieren müssen - wie wieder mal eine Schillerpreisverleihung, diesmal an Golineh Atai, mit rund 200 Gästen in der Kunsthalle Mannheim zeigt.
Atai ist für ein entschlosseneres Vorgehen gegen den Iran
Nicht nur steht weder Oberbürgermeister Christian Specht noch sonst jemand aus dem Preisumfeld im Zentrum der Veranstaltung, sondern Schiller und sie, Golineh Atai, genauer: Ihre Sphäre, ihr journalistisches Wirken und Tun in einer Welt der Ungerechtigkeiten vor allem im Nahen Osten, dem die Matinee gleich vier Film-Sequenzen aus Atai-Reportagen widmet. Syrien. Libanon. Israel und Russland. Irak. Bilder von Demonstrationen. Von brennenden Autos. Und immer wieder von Menschen, die Atai zu Wort kommen und von einem Leben im Ausnahmezustand berichten lässt.
Für Atai stehen die Erzählungen dieser Menschen beispielhaft für die Sehnsucht nach einem Ende von Korruption, nach einer Zukunft für Hochschulabsolventen, nach geordneten Strukturen und einer Perspektive - persönlich und politisch, wie sie sagt, oder: nach einem normalen Leben in Recht und Freiheit.
Golineh Atai
- Leben und Ausbildung: Golineh Atai wurde 1974 in Teheran geboren und zog 1980 nach Deutschland. Sie studierte Romanistik, Politische Wissenschaften und Iranistik in Heidelberg und volontierte beim SWR.
- Positionen: Nach verschiedenen Stationen als Reporterin und Korrespondentin für ARD und WDR, ist sie seit Januar 2022 Leiterin des ZDF-Studios in Kairo.
- Bücher: „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist“ (2019). „Iran. Die Freiheit ist weiblich“ (2021).
- Preise: Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, Peter Scholl-Latour-Preis. Marie Juchacz-Frauenpreis 2023. 2025 war sie für den Grimme-Preis nominiert. Am 16. April 2024 hat der Mannheimer Gemeinderat beschlossen, Atai mit dem Schillerpreis 2024 der Stadt Mannheim auszuzeichnen. Die Verleihung war erst am 16. März 2025 in der Kunsthalle.
Als sie in der Fragerunde von einem Herrn aus dem Publikum nach dem Iran, ihrem Geburtsland gefragt wird, merkt man auch, dass Atai sich ein entschlosseneres Vorgehen der westlichen Welt dort wünscht. Gegen das Atomprogramm. Gegen das Raketenprogramm. Keine Deals, wie Trump sie macht, will sie, sondern ein hartes Agieren, statt die eigentlichen Probleme auszublenden.
„Unentwegt, unerschrocken und couragiert berichtet Atai „
Bereits in ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ konnte man Ähnliches spüren, da hatte Atai dazu aufgerufen, sich „nicht mehr länger mit dem Russland zu beschäftigen, das wir uns wünschen“ und „das wir uns lange schöngeredet haben“, sondern mit dem Russland der dritten Amtszeit Wladimir Putins, wie Atai es von 2013 bis 2018 als Korrespondentin in Moskau erlebt hatte. Und dieses war für sie ein Russland gewesen, „in dem der Gedanke Krieg, Apokalypse und Sieg allgegenwärtig geworden“ sei. Nicht umsonst hatte sie ihrem Buch ein Zitat Putins aus dem Jahr 2015 vorangestellt: „Vor fünfzig Jahren lernte ich eine Regel in den Straßen von Leningrad: Wenn der Kampf unvermeidbar ist, dann schlag als erster zu.“
Aus der Satzung zum Schillerpreis
- Wie großzügig nun der Begriff Kultur in Mannheim ausgelegt wird, zeigt sich auch im Falle Atai. Laut Satzung (§3) kommen als Geehrte „Persönlichkeiten in Betracht, die durch ihr gesamtes Schaffen oder ein einzelnes Werk von bedeutendem Rang zur kulturellen Entwicklung in hervorragender Weise beigetragen haben oder aufgrund ihrer bisherigen Arbeit große Leistungen auf kulturellem Gebiet erwarten lassen.“ Atai befindet sich da durchaus in guter Gesellschaft, waren doch etwa mit dem Politologen Theodor Eschenburg 1960, der Journalistin Lea Rosh 1990 oder dem Publizisten Alfred Grosser 1994 immer wieder Persönlichkeiten ausgewählt worden, die nicht mit Kultur im ästhetischen, also künstlerischen Sinne zu tun hatten.
Die Wahrheit ist ihre Freundin. „Unentwegt, unerschrocken und couragiert berichtet Atai seit etwa 20 Jahren dem deutschen Publikum von den Verhältnissen, die in autokratischen Staaten herrschen“, liest OB Specht aus der Preisurkunde vor.
Golineh Atai ist in die Hände von Leute der Hisbollah gefallen
Und zu dieser Wahrheit, die freilich nie absolut sein und immer subjektive Anteile enthalten wird, gehören auch Dinge wie diese: Atai ruft dazu auf, die komplexe Welt zu ertragen und sich nicht Kampagnen in sozialen Medien anzuschließen, wo alles vereinfacht werde und große Radikalisierungen stattfänden. Es dürfe, lässt sie durchblicken, nicht nur ihre Schlüsselkompetenz sein, komplexe Situationen auszuhalten, sondern sollte auch für alle Demokraten gelten, von denen sie sich mehr Kampf für Recht und Freiheit wünscht: „Warum sollten immer nur wir dafür kämpfen!“, fragt sie rhetorisch.
Zwischen Erschütterung und Angst: Atai‘s Seelenreise
In sehr persönlichen Passagen wirkt Atai durchaus fragil. Sie berichtet von der Erschütterung ihres Wertekanons 2014 während der Krim-Annexion durch Russland, dass ein Teil von ihr 2015 „in die Depression“ gegangen sei und dass sie an einem Ort in den USA das Entspannen lerne. Auch von Angst erzählt sie auf Nachfrage einer Dame im Publikum. „Die vergangenen Monate waren schon ziemlich schwierig“, sagt sie, „wir waren in den Händen der Hisbollah. Da hatte ich richtig Angst. Wir hatten an einer Stelle gefilmt, die nicht autorisiert war, da waren wir sofort umringt“, so Atai. Sie komme oft psychisch angeschlagen von Reisen zurück.
Gleiches Wertesystem für gleiche Verbrechen anwenden
Dass auch ihr Optimismus gelitten hat, merkt man, wenn sie von Werten, von Menschen- und Völkerrecht spricht. „Wir ziehen uns von den eigenen Werten zurück. Ich fürchte, dass das so weitergehen wird. Wir bewegen uns auf sehr unsicherem Terrain.“ Sie stelle sich vor, dass in der Ukraine eine Art Vichy-Regime eingesetzt werde, dass Europa von den Großmächten China, Russland und USA aufgeteilt werde, „die sich alles erlauben können“.
Exemplarisch für den Werteverfall sieht Atai auch die unterschiedliche Wertung bei Israel und Russland. Beide Staaten würden Gewalt gegen Zivilisten ausüben. Gegen Ukrainer die einen, die anderen gegen Palästinenser. Das muss man ihrer Ansicht nach mit dem gleichen Wertesystem verurteilen.
Das Preisgeld von 20.000 Euro spendet Atai übrigens einem Studenten im Irak, der bei einer Demo von einer Kugel im Hinterkopf getroffen wurde und die Arme nicht mehr bewegen kann. Man hat ihn zuvor in einer der Reportagen Atais kennengelernt. Dass der Mensch bei ihr immer im Zentrum steht, macht die nach Lea Rosh (1990) zweite Journalistin in der Riege der Schillerpreisträger zur würdigen Geehrten. Vielleicht hätte sich sogar Thomas Bernhard für diese nahbare und mit der Musik von Foroogh Fazli und Siamak Karimpour sympathische Preisverleihung begeistern können.
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