Mannheim. Hat man mit abendländischer Kulturprägung überhaupt eine Chance, diese Bilder zu verstehen? Was man zunächst sieht, sind wellenartige Strukturen aus delikaten Farbtupfern, mal in großen Schwüngen, mal in kleinteiligen Verwirbelungen. Es wimmelt da auf den Bildflächen, man muss näher herantreten – und ist sprachlos. Die großen Wogen wie die feinen Wirbel setzen sich zusammen aus Hunderten winziger Menschen- und Tierfiguren, die teils in Schichten einander überlagern. Für den mongolischen Maler Otgonbayar Ershuu sind das keine getrennten Lebensbereiche, vielleicht ist das schon der Schlüssel, dass alle Lebensbereiche zusammengehören.
Von der mongolischen Weite nach Berlin und in die Schweiz
OtGo, wie er sich in Europa nennt – er wurde 1981 in Ulaanbaatar geboren und lebt seit 2005 in Berlin – verblüfft mit diesem Distanz-Nähe-Effekt, wo immer er hinkommt, und das ist zwischen Japan und Schweden ebenso der Fall wie in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, wo er 2023 den Göschener Zyklus schuf, bestehend aus fünf „Otgöschenen“ im Format 180 × 130 cm und zwei schmalen „Uritüren“, die jetzt bei Peter Zimmermann zu sehen sind.
Dass er schon früh mit seinem Talent auffiel, traditionelle mongolische Malerei studierte und sich die Thangka- und Miniaturmalerei buddhistischer Klöster aneignete – diese Fakten berühren nur eine Oberfläche. In Berlin studierte er noch einmal an der Universität der Künste, was ihn über Maltraditionen hinauswachsen ließ. Aber aus welchen Impulsen von Konzentration, Ruhe und Schaffensdrang er getrieben wird, ahnt man eher bei einem YouTube-Video, das 2021 in seinem Berliner Atelier gedreht wurde.
Das meterlange Format vieler Bilder verlangt anfangs die Position am Boden, wo OtGo auf die schwarze Grundierung mit bloßen Händen und Füßen Farben aufträgt. Er hat offensichtlich eine bewusste Wahrnehmung nicht nur für Boden und Wände, sondern auch für den Blick von hoch oben nach unten und umgekehrt, mal steht er auf einer Gerüstplattform unter der Decke, mal liegt er ganz unten platt auf dem Rücken. Auch wenn Perspektivwechsel in seinen Bildern nicht formuliert werden, scheinen sie eine innere Perspektive zu bestimmen, denn er widmet sich dem fast unentwirrbaren Miteinander von Menschen- und Tierfiguren mit manischem Maldrang und unbeirrter Gelassenheit.
Mit Pinsel und Daumen einen Farbsturm gemalt
Wer all die Zebras, Pferde, Affen, Oktopusse und Menschen zählen wollte, er würde scheitern, aber es handelt sich nicht um serielle Wiederholungen, OtGo nutzt keine Schablone, er malt jede Figur einzeln, so dass sie als Individuen in teils winzigen Varianten voneinander abweichen. Das ist vor allem bei Bewegungsposen von stupender Vielfalt, seine Auffassung vom Körper in Aktion entspringt einem detailgenauen, aber ganz anderem als dem europäischen Blick. Man steht vor diesen Bildern wie vor einem Sturm aus Partikeln, die aus feinsten Pinselstrichen und Farbtupfern von OtGos Daumen bestehen. Man muss in diesen Sturm hineinsehen und findet sich plötzlich als Teil davon.
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