Mannheim. Vielleicht ist Bühnenkunst ja immer dann am besten, wenn sie herunterkriecht von den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, wenn die Kunst wie ein unsichtbares Monster zu uns ins Publikum kommt, wenn sie sich unter unseren Sitzen im Parkett einnistet, wenn sie durch die Polster hindurch und in uns hinein diffundiert, ins Fleisch, in die Knochen, ins Hirn, um uns dort in jener Region zu martern, in der sich unser Gewissen befindet.
An diesem Abend fällt dieser schreckliche Moment mit den schönsten musikalischen Sphären zusammen. Man ertappt sich im Opernhaus am Luisenpark (Opal) gerade dabei, mit Englischhorn, Fagott und Solocello den verdienten Tod des Helden zu feiern und sich ganz der Schönheit von Schrekers Zauber-Musik hinzugeben, da ertönt plötzlich diese französisch sprechende Stimme, der das gesamte, die Weltvölker repräsentierende Bühnenpersonal zuhört: „Männer und Frauen des Kongo, Kämpfer der errungenen Freiheit …“ Es ist die Rede Patrice Lumumbas von 1960, des ersten Präsidenten des Kongo, mit der er die Unabhängigkeit des Landes erklärt - 75 Jahre, nachdem raffgierige Großmächte auf der Berliner Konferenz den Kongo unter sich verteilt hatten. Als gehöre er ihnen.
Franz Schrekers Zauberoper „Der Schmied von Gent“
- Die Oper: Franz Schrekers große Zauberoper, 1932 in Berlin uraufgeführt, basiert auf den „Légendes flamandes“ (1858) von Charles De Coster.
- Die Handlung: Im Mittelpunkt steht der Schmied Smee, ein Aktivist im achtzigjährigen Krieg gegen die spanische Herrschaft. Nach einem begangenen Unrecht und dem Pakt mit dem Teufel erlebt er sieben Jahre Glück und Reichtum. Er hilft den Armen und gewährt Josef, Maria und Jesus Schutz. Als Belohnung erfüllt ihm Josef drei Wünsche, die ihm später die Kontrolle über seine Feinde ermöglichen. Nach Smees Tod wird ihm zunächst der Himmelseintritt verwehrt, bis Josef interveniert, abwägt und ihm schließlich Einlass gewährt.
- Die Termine: 11./13./16./19./21./23. März.
- Info: 0621/1680.150
Sofort ist die Scham da. Scham und die Erinnerung, was auch dieses, unser Land an Unrecht, Schrecken und Horror auf dem afrikanischen Kontinent angerichtet hat. Stichwort Namibia. Stichwort Völkermord. Stichwort Hereros. 1904.
Das alles hat mit dem Abend hier nichts zu tun? O doch. Denn Regisseur Ersan Mondtag befragt hier nicht nur Franz Schrekers Zauberoper „Der Schmied von Gent“, in der es - neben vielen anderen Dingen - um die Besetzung Flanderns durch die Spanier Philipps II. und den Achtzigjährigen Krieg geht. Er fragt sich auch, wie ein Volk, das so sehr gelitten hat unter Fremdherrschaft, anderen später Fremdherrschaft aufzwingen kann.
Mondtags Regie ist in vielerlei Hinsicht ein großer Wurf
Das wirft freilich Fragen an unsere viel gepriesene Erinnerungskultur auf. Können wir wirklich aus der Geschichte lernen, weil sie als kulturelles kollektives Gedächtnis in unserer DNA gespeichert wird und sich so Generationen erinnern?
Bitterernst wirkt das alles und täuscht hinweg darüber, dass man im Opal einen wirklich vergnüglichen Opernabend erlebt. Mondtags Regie ist nämlich in vielerlei Hinsicht ein richtig großer Wurf. Sie ist - in den Kostümen Josa Marx‘ und in Mondtags Bühnenbild - quietschbunt an der Oberfläche, spielt virtuos mit Klischees, bricht mit dem spektakulären Bühnenbau, einer Mixtur aus Schmiede, Gent und dem Gebäude gewordenen Teufel, in ein Wunderland auf, in dem die abwegigsten Dinge passieren - vor allem gegen Ende, wenn Jesus, Maria, Josef und Petrus mit wackelnden Heiligenscheinen unbeholfen zwischen Himmelspforte und Teufelstor hin und her stapfen.
Ein bisschen absurdes Theater. Ein bisschen Monty Python. Ein bisschen magischer Realismus. Mondtag macht mit der Kongo-Setzung zwar (oft zu Unrecht in Verruf geratenes) Regietheater. Er macht aber auch die Regie zum Theater.
Joachim Goltz glänzt als Schmied Smee mit vielseitigem Bass-Bariton
Und er kann sich dabei auf alle verlassen. Zuerst auf Joachim Goltz. Als kapitalistisch agierender Schmied und in König-Leopold-Montur schmeißt er den Abend fast allein. Mit seinem markanten, obertonreichen, zu vielen Charakterisierungen fähigen Bass-Bariton gelingt ihm das oft gefragte Parlando exemplarisch und dramatische Nuancen durchschlagend. Und in den lyrischen Regionen des „Schöne Bäum‘ draußen am Kai“ lässt der ewig tänzelnde Goltz alle Farben des Stimmfachs wunderschön und weich irisieren und gleitet mit „In der Höll‘ keine Bäum‘“ gelungen in die finstere Färbung hinein. Beeindruckend.
Zur Sensation des Ganzen gehören aber auch Chor (Alistair Lilley), Kinderchor (Anke-Christine Kober) und Orchester. Unter Janis Liepinš werden sie dem wohlgeordneten Amalgam aus barockem Kontrapunkt, neoklassizistischer Rhythmik und spätromantischer Emotionsexplosion voll gerecht und musizieren hochkultiviert, rhythmisch präzise, transparent und expressiv - gleich das rasante schwierige Geusenlied der Spaniengegner „Vive le geus“ gelingt atemraubend und kompakt.
Uwe Eikötters teuflischer Hessel geht durch Mark und Bein
Alles passt an dem Abend, der einem keine Sekunde der Unaufmerksamkeit gönnt, an dem die Zeit fliegt, weil Schreker dicht komponiert hatte und Mondtag dicht und voller Symbolik und Liebe zum Detail gedeutet hat. Es ist üppiges Überwältigungstheater, das sich uns offenbart, und bedenkt man auch noch, dass alle 14 (!) Solisten hier ihr Rollendebüt geben, wird auch das NTM zum Zauberort.
Zwar „singt“ Julia Faylenbogen als Smees Frau die Konversationsstellen zu sehr, zudem hat man mitunter den Einruck, die tiefen Regionen etwa des „Lieber Gott“ lägen etwas tief für ihren schönen Mezzo, der in der Höhe dann so viel weiches Licht entstehen lässt (toll ist ihr „Will gern für ihn beten“). Zwar beeindruckt Raphael Wittmer vor allem als tanzender, agiler und springender Duracell-Flipke, bleibt aber stimmlich etwas dünn. Aber die Gesamtleistung ist großartig. Uwe Eikötters Edelmetall als teuflischer Hessel geht durch Mark und Bein, Seunghee Khos höllische Liebesgöttin ist ein stimmliches Aphrodisiakum, Christopher Diffey verleiht dem Schmied Slimbroek die nötige fiese Note, an der Himmelspforte bestimmt der herrschende Ton Bartosz Urbanowicz‘ (Petrus) und als Jesus und Maria überzeugen Ilya Lapich und Yaara Attias.
Muss man erwähnen, dass auch Sung Ha (Alba, Bass), Lennart Kost und Thomas Berau (Adelige), Rafael Helbig-Kostka (Knappe, Tenor) und vor allem Amelia Scicolone (Sopran) bestens singen und spielen?
Nach „La traviata“ ist hier die zweite Erfolgsproduktion mit Oper gelungen. Dieser Abend macht Spaß, hat internationales Niveau und Tiefgang. Eine Seltenheit - und das mit einem von Schrekers unbekannten Werken. Full House. Jubel. Trubel. Betroffenheit. Große Kunst!
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