Passau. In Sachen Blasmusik sind die Bayern führend. Doch wer an Trachtenkapellen und zünftig Krachledernes denkt, liegt vielleicht nicht falsch, kennt aber nur einen Teil der musikalischen Wahrheit. In Landshut, Passau und Straubing, den drei Spielstätten des Niederbayerischen Landestheaters, ertönt derzeit richtig guter Jazz, wo sonst mehr Mozart, Wagner oder Gluck erklingt. Dort ist der Brite Basil H. E. Coleman nicht nur die letzte Spielzeit Musikalischer Leiter, sondern auch noch bestens vernetzt mit der freien Jazz-Szene zwischen München und Wien. Dem Umstand, dass auch Intendant Stefan Tilch bald in den Ruhestand geht, ist es zu verdanken, dass die beiden im Verbund mit Choreografin Sunny Prasch mit ihrer letzten gemeinsamen Musical-Produktion unter überregionaler Beachtung noch einmal in die Vollen gehen.
Drei Bühnen mit regem Musiktheaterbetrieb
Bei Freunden dieses Genres hat sich das Trio in der bayrischen Musical-Diaspora einen glänzenden Ruf erarbeitet. Und es ist ihnen wohl auch deshalb das Kunststück gelungen, den selten gespielten Großklassiker „Chicago“ ins hübsche, aber doch eher unmondäne Niederbayern zu bekommen.
Über Jahre hat man sich um die Rechte bemüht, denn hoch sind die rechtlichen Broadway-Auflagen. Die Aufführungshistorie des Urmusicals von Fred Ebb und Bob Fosse zum jazzigen Roaring-Twenties-Sound des nun 98-jährigen John Kander ist mindestens ebenso spannend wie das auf wahren Begebenheiten basierende Gefängnisdrama um die Männer mordenden Insassinnen Velma Kelly (auf höchstem internationalem Niveau: Nadine Germann) und Roxie Hart (glänzend: Marije Louise Maliepaard).
Bis das Stück (1926) von der Broadway-Bühne, über den Film (1927, 1943) zum Musiktheater des legendären „Cabaret“-Duos Kander/Ebb wurde, dauerte es 50 Jahre. 1975-1977 war der Erfolg riesig, aber kurz. Wer sollte es nicht alles spielen, singen, verfilmen… Im langen Gezacker um das große Geld – „And all that Jazz“ – spielten Namen wie Liza Minnelli, Madonna oder Harvey Weinstein eine große, die Sache fast bis zur Vergessenheit verzögernde Rolle, bis 2002 Rob Marshall dann den Zuschlag für seinen Film mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere erhielt.
Musikalisch ist „Chicago“ ein Knaller, dem man in Passau nicht nur mit besagter rhythmisch aufgeweckter und sauber intonierender Band, sondern auch mit einem exzellent gecasteten Ensemble zu begegnen weiß.
Selten gespieltes Großkaliber: Und Mama Morton kommt vom Pfalztheater Kaiserslautern
Als Mama Morton in fachgerechter Idealbesetzung reiste der auch im Pfalzbau Ludwigshafen gefeierte Publikumsliebling Astrid Vosberg an: „When You‘re Good to Mama“ ... Es herrscht kein Zweifel, wer hier im Knast das Sagen hat. Die zynisch-unterhaltsame Justiz- und Mediensatire braucht eben starke Charakterdarsteller und findet sie auch in Jochen Decker als gutmütiger, geprellter und von Roxie dauergehörnter Amos („Mr. Cellophane“) oder im großen Soubretten-Format in Kirsten Schneider als Star-Reporterin Mary Sunshine. Wo es um erschossene Liebhaber, Mordprozesse und mediale Strategien geht, darf ein gutgelaunter wie seidenglatter Anwalt nicht fehlen: Stefan Merten gibt Billy Flynn tadellos.
Das nicht nur stimmgewaltige, sondern auch auffallend spiel- und tanzfreudige Ensemble hält auch in den kleineren Rollen Entdeckungen bereit, etwa Maura Oricchio (June) und vor allem den tänzerisch und stimmlich als leuchtendes Energiebündel hervorstechenden Ivan Lytvynenko (Fred Casely).
Geht es derzeit um amerikanische Justiz- und Moralfragen, kann die Regie eigentlich gar nicht überzeichnen. Den Kostümen von Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels gelingt dies allerdings mühelos. Regisseur Stefan Tilch bleibt durchgängig solider Handwerker, der auch in den hochkomplexen Ensembleszenen, etwa den Reißern „Cell Block Tango“ oder „We both reached the gun“, und selbst in der großen Gerichtsszene die Fäden in der Hand hält. Auch Sunny Prasch hat hier als Choreografin ganze Arbeit geleistet, ihr quirliges Ensemble ebenso: Getanzt wird über zweieinhalb Stunden auf hohem Niveau und ihre Linien kommen immer auf den Punkt.
So energetisch kann intelligentes Unterhaltungstheater sein, wenn es in guten Händen ist und – pardon – auch mal teuer sein darf. Man muss sich nur trauen, sich auch an aufwendige Raritäten zu wagen und keine Beschaffungsmühen zu scheuen.
Tanz auf dem Vulkan der Korruption
Gelohnt hat sich der Aufwand allemal: Im Publikum sind Mannheimer, Münchner und selbst musicalverwöhnte Stuttgarter und Wiener. Dieser gelungene Tanz auf dem Vulkan der Korruption, aus dem die alternativen Fakten sprühen wie die Funken der pyrotechnischen Einlagen, lässt keine Illusionen zu: Der Aufruf, sich selbst der beste Freund zu sein („My Own Best Friend“) war nicht nur in den USA der 1920er Jahre das Zeitgeist-Motto der Stunde. Was bleibt uns, als die Umsetzung dieser Skrupellosigkeitsparabel anerkennend zu beklatschen, um danach wieder über den Großen Teich zu blicken und verwundert zu fragen, was wohl nur mit dem Anstand („Class“) passiert sei?
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