Mannheim. In Mannheim geht eine ganze Dynastie zugrunde. Kein Wunder. Es sind selbstverliebte Dandys und Celebritys, die sich nicht für sozialen Frieden interessieren, sondern lediglich für den eigenen Ruhm. Es könnten alternde Traumschiffkapitäne aus der Fernsehwelt sein, blaublütige Damen, Schlaggerfuzzis oder vernachlässigte Wohlstandsbengel wie Froh und Donner. Sie kleiden weiße Gala-Dinner-Roben, große Sonnenbrillen und edle Sneaker (Falk Bauer), meist falsch und schleimig lächelnd machen sie gute Mine zum bösen Spiel.
Freia etwa, einst als Göttin der Jugend gewähnt, ist ein heißes Material-Girl und hat eigentlich nur eines im Sinn: sich dem erstbesten Riesen (Fasolt) an den Hals zu werfen und die Beine zu spreizen. Daran lässt jedenfalls ihr Räkeln auf dem Bühnenklavier kaum Zweifel. Oder Wotan: Während das Wohl dieser nymphomanisch veranlagten Freia, immerhin seine Schwägerin, mit den Riesen verhandelt wird, pflegt er seine narzisstische Persönlichkeitsstörung und blickt selbstverliebt den mächtigen „Ring“ an seinem Finger an. Ein eitler und elender Vollidiot, der dem halbseidenen und -göttlichen Loge final genug Anlass zur Feststellung gibt: „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen.“
Der Auftakt ist geglückt
Kein Zweifel: Diese Götter sind auch nur Menschen, die sich in tiefgreifende Muster geglaubter Großartigkeit hineinfantasieren, ein durchgehendes Bedürfnis nach Bewunderung und – dies vor allem – einen Mangel an Einfühlungsvermögen haben. Sie fühlen sich wertig – und sind doch nur ein soziales Geschwür für die Gesellschaft, weil sie in ihrer Gier und Selbstliebe der Allgemeinheit schaden. Sie raffen, und was sie raffen, nehmen sie, wie jeder, der Geld oder Gold ansammelt, anderen weg. Es ist (nicht nur) Richard Wagners Thema.
Mannheim, 9. Juli, „Rheingold“. Das ist also der neue „Ring des Nibelungen“ von Regisseurin Yona Kim, um den jetzt schon ein wenig Skandalluft weht. Die teure Megaproduktion von 15 bis 16 Stunden wird erst mal nur einmal gespielt, um dann nach Südkorea abzuhauen. Grundsätzlich wird sie zwar, so genau kann es das Nationaltheater auf Anfrage noch nicht sagen, während der Sanierung eines Tages in der Ersatzspielstätte Oper am Luisenpark (Opal) gezeigt werden. Auf keinen Fall aber in der nächsten Spielzeit, was bedeuten dürfte: Es wird eine aufwendige Neueinstudierung. Was? Wieso produziert man nicht gleich so, dass direkt in der Opal weitergespielt werden kann? Droht Kims „Ring“ das gleiche Schicksal wie dem von Achim Freyer?
Egal (oder eben nicht): Jetzt gilt’s erst mal der Kunst. Der Auftakt ist geglückt. Mit zehnminütigem Beifall und Jubel bedenken am Samstag die Menschen im endlich wieder einmal voll besetzten Mannheimer Opernhaus den Vorabend der Tetralogie. Den meisten Applaus erhalten Generalmusikdirektor Alexander Soddy, das Nationaltheaterorchester sowie der Ur-Mannheimer Bariton Joachim Goltz für seinen starken und brillanten Alberich.
„Der Ring des Nibelungen“ am Nationaltheater
- Der Komponist: Der deutsche Komponist, Dramatiker, Dichter, Schriftsteller, Theaterregisseur und Dirigent Richard Wagner (1813-83) darf als revolutionärer Erneuerer des Musiktheaters gesehen werden, der die Idee des Gesamtkunstwerks entwickelte. In seinen Schriften, vor allem zum „Judenthum in der Musik“, hat er sich antisemitisch geäußert.
- „Der Ring des Nibelungen“: Die vier Teile seines „Rings“ amalgamieren das Nibelungenlied mit der nordischen Götterwelt und machen aus beidem das nach Stockhausens „Licht“-Zyklus größte Musiktheaterwerk mit einer Spielzeit von 15 bis 16 Stunden. Die enzyklopädische Themenordnung konzentriert sich am Ende auf Kapitalismus und Gier, Natur und Zerstörung, Neid und Macht sowie menschliche Schwächen, die bei Wagner aber auch die Götter an den Tag legen.
- Der „Ring“ am NTM: „Das Rheingold“ (vorbei), „Die Walküre“ (17.7., 17 Uhr), „Siegfried“ (22.7., 17 Uhr), „Götterdämmerung“ (30.7., 17 Uhr). Im Herbst gastiert die Produktion mit mehr als 200 Beteiligten in Südkorea. Danach verschwindet sie erst einmal. Wann sie während der NTM-Sanierung in der Oper am Luisenpark gezeigt wird, ist offen.
- Info/Karten: 0621/1680 150.
Kims Regie ist denkbar einfach. Ihre Idee eines Orchesters als Erzähler der Handlung vermittelt sich zwar nur vereinzelt; meist stehen Instrumente tragende Statistinnen und Statisten wie bestellt und nicht abgeholt auf der Bühne herum. Doch die Konzentration auf die dramaturgische Handlung allein mit filmischem Schnickschnack geht auf. Es ist, was man sich in aufwendigem Kulissentheater bisweilen wünscht: ein auf Text, Aktion und Musik fokussiertes Interagieren der Protagonisten, die statt eingeübter Gesten freies homogenes Handeln an den Tag legen. Die Live-Video-Übertragung einiger Begebenheiten auf halb herabgelassene Projektionsflächen (Benjamin Jantzen) dient in erster Linie einem optischen Aufpeppeln. Es hat auch ein bisschen die Funktion der Brecht-Gardine, die wie auch der bühnenportalbreite glitzernde Kettenvorhang (Bühne: Anna-Sofia Kirsch) teils Dinge zeigt, teils eben nicht.
Kim beschwört so auch eine kolossale Selbstreflexion des Theaters herauf, das im digitalen Zeitalter sozialer Medien an einem rasanten Relevanzverlust leidet und sagt: Das Theater ist tot. Es lebe das Theater. Man befindet sich wunderbar fern aller realer Realität. Keine Politik. Keine Behauptung. Alles ist falsch. Alles ist Spiel. Alles ist entlarvt. Die Götter. Die Riesen. Die Nibelungen. Die Gier. Der Narzissmus. Der Sex. Es funktioniert.
Starkes Orchester, starke Stimmen
Musikalisch ist man sich nicht sofort sicher. Wie sich die groß besetzten Streicher etwa im Vorspiel Licht bringend aus dem Urschleim einer amorphen Undefiniertheit lösen, wie die Celli- und Bratschen-Triolen sich allmählich über die Bläsersätze legen, überzeugt nicht sofort mit größter Homogenität. Danach läuft das Orchester dafür immer wieder zu Hochform auf, besticht vor allem durch unfassbare Klangmischungen und Beweglichkeit, allein der Fortissimo-Piano-Wechsel von C-Dur nach f-Moll bei Wotans „So grüß ich die Burg“ ist sehr edel. Durch solche Disziplin ist etwa Thomas Jesatkos Wotan quasi mit jedem Wort zu verstehen. Fantastisch. Der Wagner-erfahrene Kammersänger überzeugt mit Diktion, Dichte und Darstellung. Joachim Goltz setzt ihm als sein Kontrahent, Nibelung Alberich, eine ganz andere Stimmfarbe entgegen. Ist es bei Jesatko fast väterliche Wärme, so bei Goltz das drängende Glitzern des Neids – unterschiedlicher können Baritone kaum klingen. Dass sich der stets stark färbende und charakterisierende Mime von Uwe Eikötter da bestens einfügt – klar. Eikötter ist ohnehin so etwas wie der Ideal-Mime.
Kann man das so weiter erzählen?
Wie stark das Ensemble aufgestellt ist, zeigen nicht nur die aufreizenden Rheintöchter Rebecca Blanz und Maria Polanska mit Gast Mirella Hagen in einer Art Glamour-Revue gleich zu Beginn am Mikrofon oder Julia Faylenbogens Erda aus dem Graben. Auch die sittenverrohten Göttinnen sind gut aufgestellt. Jelena Kordic wirkt nur beim anfänglichen „Wotan, Gemahl! Erwache!“ etwas unsicher, danach entwickelt ihre Fricka den für sie typischen warmen Kraftstrahl mit gesundem Kern und irisierenden Obertönen. Und Astrid Kesslers Spiel und Gesang als Freia sind erneut ein Beweis für ihre tolle Vielfalt.
Und wer solche Riesen hat wie das NTM, darf sich glücklich schätzen. Patrick Zielckes Fafner und Sung Has Fasolt sind nicht nur für Freia unwiderstehlich. Ihre mächtigen und gut timbrierten Stimmen harmonieren besser als ihre zivilisatorische Haltung, schließlich erschlägt Fafner Fasolt kurzerhand mit einem Kontrabass, um an den „Ring“ zu kommen. Jürgen Sacher kommt als Loge mit winkeladvokatischem Geschick und bisweilen schleimig-hinterlistigem Tenor daher, während Joshua Whiteners Froh (edel in der Mixtur von Stimmkern und Oberton) und Nikola Diskics Donner (einfach brillant und sehr deutlich) das exzellente Ensemble komplettieren.
Der Auftakt ist geglückt. Kann man den ganzen „Ring“ jetzt so erzählen? Nutzt sich das Muster nicht ab? Nicht umsonst ist einer der erfolgreichsten „Ringe“ des Jahrtausends der Stuttgarter Coup mit vier unterschiedlichen Ansätzen von vier unterschiedlichen Regisseuren gewesen. Auch Frank Castorfs Bayreuther „Ring“ lebte von der Heterogenität der Einzelteile. Bei Kim wissen wir am 17. Juli mehr, wenn Siegmund auf Sieglinde trifft und die Walküren mit ihrem wilden Ritt starten. Hojotoho! Heiaha!
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-nationaltheater-so-sind-goetter-am-nationaltheater-auch-nur-gottlose-menschen-_arid,1971760.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html