Schwetzingen. Im Schwetzinger Schlosstheater, zwischen Plüsch, Polster und Parkett, haben sie Deutschlands vielleicht schönste und unterhaltsamste Opernbaustelle eingerichtet. Gebaut wird an einem großen Gefühl: der Liebe. Alles ist für sie vorbereitet. Die Häuser sind da. Die Menschen sind da. Der Gönner der Menschen, ein Typ namens Almaviva, ist da und mit ihm die Immobilienblase, blühende Landschaften und kapitalistischer Wohlstand. Es fehlt buchstäblich an nichts – außer eben an ihr, der Liebe, die hier von allen mit ihrer Schwester verwechselt wird: der Lust. Dem Bau der Liebe stünde nichts mehr im Weg, außer dass sie etwas mit Gefühl zu tun hat und keine und keiner hier so genau weiß, was Gefühl ist und was vielleicht nur eine Lebensausfahrt in Richtung Erfolg, Vorteil, Reichtum.
Mozarts „Le nozze“ im Schwetzinger Schlosstheater
- Das Werk: Mozart suchte sich 1786 Beaumarchais’ verbotenes Theaterstück „Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit“ selbst aus und verwandelte es in die vielleicht geistreichste und bewegendste musikalische Komödie der Operngeschichte. Das Libretto stammt – wie „Così fan tutte“ und „Don Giovanni“ – von Lorenzo Da Ponte. Die Uraufführung fand am 1. Mai 1786 In Wien statt. Mozart dirigierte.
- Die Handlung: An ihrem Hochzeitsmorgen eröffnet Susanna ihrem Bräutigam Figaro, dass ihr Dienstherr, Graf Almaviva, Figaros Beförderung sowie eine großzügige Mitgift an eine Bedingung knüpft: Susanna soll sich dem Grafen noch vor der Hochzeitsnacht hingeben. Da Figaro um seine Stellung fürchtet, wagt er keinen direkten Protest. Doch es sind weniger seine Intrigen als die klugen Listen Susannas und der Gräfin, die am Ende eines „tollen Tages“ den Grafen zum Aufgeben bewegen.
- Die Termine: Die fünf Folgeaufführungen am 28.2., 2., 4., 9. und 11.3. sind bereits ausverkauft.
Das ist die Ausgangslage dieser „Hochzeit des Figaro“, die in der Deutung von Regisseurin Barbora Horáková natürlich nicht stattfinden kann, denn sonst wäre ja alles prima. Im Gegenteil: Am Ende, wenn hier alles gesagt, gesungen, probiert und vergeblich gesehnsucht ist, hilft offenbar nur noch eine neue, unbekannte Zukunft: ein Kind, ein neuer Erdenbürger, der vielleicht alles besser macht und weiß, und nachdem das Nationaltheaterorchester unter Dirigent Salvatore Percacciolo seine letzten schmissigen D’s hingeworfen hat, nimmt Shachar Lavi als Cherubino noch mal die E-Gitarre zur Hand und dreht den Verstärker auf.
Wie einer der Kaulitzbrüder von der Rockband Tokio Hotel sieht sie aus. Verwegen. Draufgängerisch. Das Haar steht ihr vom Kopf. Das Charisma strahlt. Die Gedanken fliegen. Und während die gesamte Bewohnerschaft dieser vermeintlich spießigen Neubausiedlung verzückt am Kinderbett von Susannas Spross steht (das freilich nicht von Mozart oder Librettist Da Ponte gebaut wurde), spielt Lavi kein Solo von Metallica, sondern lediglich diese Noten: b, f-f-c, f. Fünf Töne, die an den Beginn ihrer Canzone aus Akt zwei erinnern: Ihr, die ihr wisst, was Liebe ist, Frauen, seht, ob ich sie in meinem Herzen habe (Voi che sapete …)?
Cherubino und Tokio Hotel
So endet dieser Abend nach mehr als dreieinhalb Stunden ernsthaften Vergnügens mit einem Fragezeichen. Vergnügen, weil Horákovás Regie voller Witz, Action und Konventionslosigkeit ist. Ernsthaft, weil das gesuchte Objekt, eine bedingungslose Liebe, nicht in Sicht ist. Der extreme Unterhaltungswert dieser „Nozze“ beginnt bei der Bühnenmusik. Bettina Ostermeier ist der Party-Dj mit Garantie: „Ihr musikalischer Volltreffer für Events aller Art“. Mit Keyboard, Akkordeon und Rohrblattinstrumenten schaltet sie sich immer wieder in Rezitative ein und stimmt auch mal Jazz oder einen Tango an – eine lockere und überraschende Erweiterung, die Mozart sicherlich gefallen hätte.
Der Abend ist so voller Bilder, echter und projizierter, für die Falko Herold zuständig ist, er ist so voller Situationskomik, Frechheit und Farbe, so voller Ideen und Abwechslung, dass man als Zuhörer immer dran bleibt. Die Regisseurin zieht einen durch Mozarts Meisterwerk wie durch ein Labyrinth, das mal auf der grünen Wiese mit Einfamilienhäusern aus dem Katalog stattfindet, dann wieder, in Akt 3, in einem Wald voller halluzinogener Pilze, ohne die die Verwirrung der Gefühle wahrscheinlich kaum erträglich wäre. Ein wahrer LSD-Trip fern jeder Realität.
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Hier irren sie also herum. Der arme Figaro, ein ungeliebter naiver Betrogener, Susanna, die mit ihrem Charme alle haben könnte (und hat?), die Gräfin und der Graf aus dem Immobilien-Imperium, ein kinderloses Ehepaar, das nicht so recht weiß, wozu die Triebe eigentlich da sind, wo sie doch (genetisch) nirgendwo hinführen. Die Hormone strömen, es knistert und knuspert, Beine werden gespreizt, Hosen runtergelassen, Körper und sekundäre Geschlechtsmerkmale begrapscht – willkommen auf der Opernbühne im 21. Jahrhundert, die locker mit Netflix & Co. mithalten kann. Nur: Hier kommt auch noch Ereignishaftigkeit dazu.
Und die Musik. Im Affentempo steigt Percacciolo ein. Teodor Currentzis macht es nicht schneller. Aber es hält. Der ganze erste Akt ist zwar voller kleiner Ungenauigkeiten zwischen Graben und Bühne, ungehobelten Oberflächen und allzu unwirschen Einsätzen, aber irgendwie groovt das alles trotzdem irre gut.
Lavi ist ein Bühnentier
Manches überdeckt die Singenden auf der Bühne, doch gegen Ende, also nach der Pause, läuft der Mozartmotor so richtig rund. Der Drang nach vorn, die Präzision in der Artikulation und die schroff verstandene Rhythmik vermengen sich optimal mit transparenter Klanglichkeit, bei der bisweilen schnelle Figuren in allgemeiner dramatischer Großwetterlage erstaunlich gestochen hörbar werden – auch in Dani Juris’ Chor.
Gesungen wird bestens. Shachar Lavi ist ein energetisches Bühnentier mit Superpräsenz. Ihre Stimme besitzt ein rundes, goldenes Timbre, sie singt mit Herz und Verstand. Großartig – auch wie sie mit der bestens aufgelegten Rebecca Blanz an einer Stelle vom Akkordeon begleitet eine extravagante Version des Stones-Klassikers „Paint it black“ gibt. Das ist nicht weniger als haarsträubend gut. Neben ihr ist auch Amelia Scicolone als Susanna höchst präsent, stimmlich so wandlungsfähig wie echt. Wie sie das „Giunse alfin il momento“ singt, warm, langatmig und beseelt, geht direkt unter die Haut. Man kommt aus dem Schwärmen nicht heraus. Ilya Lapichs Almaviva hat alle Facetten dieses hinterhältigen Kavaliersbaritons, Seunghee Khos Gräfin weist absolute Belcanto-Qualitäten auf und klingt durch die Register hindurch makellos. Marcel Brunner vermacht Figaro vor allem gegen Ende eine überlegene Statur samt Kolorit, das obertonreich ins Auditorium strahlt.
Thomas Jesatkos Bartolo (stimmlich fein gezeichnet und mimisch aberwitzig), Marie-Belle Sandis’ Marcellina (mit leichten Schärfen), Raphael Wittmers Basilio (mit schöner Charakterisierung im Farbklang) sowie Uwe Eikötters Don Curzio und Thomas Beraus Antonio sind bestens besetzt.
Eine großartige Produktion, die zeitgemäße Fragen stellt, ohne aber den Eindruck zu erwecken, dem Zeitgeist allzu sehr hinterherzuhecheln. Es gibt viele Verweise zur Popkultur, tolle Rezitative mit Hammerklavier (Erik García Álvarez) und Keyboard, es gibt viel zu lachen und einiges zu denken. Was will man mehr von einem Opernabend im 21. Jahrhundert! Vielleicht noch die Antwort auf die Frage: Von wem ist nun eigentlich Susannas Kind?
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