Tanz - Mit der Silvester-Premiere „Rising“ starten am Nationaltheater Mannheim choreographische Karrieren und das neue Jahr

Mit der Premiere „Rising“ startet der Tanz ins neue Jahr

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Verwirrende wie faszinierende Selbstbespiegelungen zeigte Emma Kate Tilson als Tänzerin und Choreographin ihres Solos „Layered, in figments“ gleich zum Auftakt der Uraufführung „Rising“. © Christian Kleiner

Mannheim. Nach einer für alle und alle Künste schwierigen Zeit standen die Zeichen gut für den Mannheimer Tanz. Die Impfsituation lässt unter gebotener Vorsicht die wesensbestimmende körpernahe Zusammenarbeit zu. Videos und Streams der Schließzeiten stehen, und es sitzen sich nun wieder Kollegen und echtes Publikum gegenüber. Den vielzitierten allem Anfang innewohnenden Zauber des Jahreswechsels nutzt Intendant Stephan Thoss für eine Silvester-Premiere, ein echtes Novum für das Nationaltheater und den Mannheimer Tanz, der es damit sogar in die Silvester-Vorberichterstattung der „Tagesthemen“ schaffte.

So ein Jahreswechsel ist eben immer auch Aufbruch, Anfang, Neubeginn, den die Dramaturgie mit dem englischen Wort „Rising“ auf den Punkt brachte - dem Stephan Thoss noch die Idee zufügte, jungen Tanzschaffenden am Beginn ihrer choreographischen Laufbahn ein Forum zu bieten. Sechs von ihnen zeigten am Silvesterabend vor coronakonform ausverkauftem Schauspielhaus, was sie mit der Mannheimer Thoss-Compagnie erarbeitet haben.

Emma Kate Tilson gebührt das eindringliche Eröffnungssolo. Die junge Amerikanerin tanzt und choreographiert sich buchstäblich selbst. Illusionen als Schichten bruchstückhafter Fiktion durchdringt sie in „Layered, in figments“ .

Skizze einer Beziehung

Der Fluss gelungener choreographischen Selbstbespiegelung ist weit in den öffentlichen (Bühnen-)Raum ausgreifend, dann wieder ganz körpernah bei sich selbst. Nach zaghaften Aufrichtungsversuchen dringt sie vom Boden zu Fremd- und Selbstbildern vor. Sie liefert beeindruckende Motive - und bricht zu Klängen von Louis Oehl durch eine effektvolle Spiegelwand ... zu neuen Ufern oder gar zu sich selbst auf. Ein starker Aufbruch, dieser Auftakt.

Im nachfolgenden Duo „Line-up“ zeigt der Italiener Roberto Tedesco die räumliche Skizze einer Paarbeziehung. Paloma Galiana Moscardó und Leonardo Cheng stehen weit abgewandt voneinander. Geometrisch lässt Tedesco sie in schemenhaften, grafisch anmutenden Bewegungsabläufen zueinanderfinden. Wie in Zeitlupe explodieren und implodieren diese Figuren, eingebettet in Zitate aus Breakdance, Twist oder Moonwalk lernen sie, sich zu betrachten - dann kennen. Roberto Tedesco - ein Choreograph, den man sich merken sollte.

Das spanische Compagnie-Mitglied Luis Tena Torres, hat sein Stück „demons“ seit der letzten Choreographischen Werkstatt merklich geschärft zum Trio umgearbeitet. Auch er tanzt selbst mit und begeistert mit Saori Ando und Jessica Liu in einem perfekt choreographierten (und ausgeleuchteten) Beitrag. Es fallen Schüsse, am Boden liegende Körper zucken, es wird geflüstert, Überwachung ist überall. Die Dämonen der Vergangenheit tanzen immer mit, ob in exaltierten Club-Dance-Einlagen oder zu Schamanenklängen. Ein wahrlich dämonisches Finale wird zum krönenden i-Tüpfelchen.

„Rising“ am Nationaltheater

  • „Rising“ (english für Anfang, Aufkommen, Aufgang, Beginn), ist ein pausenloser sechsteiliger Tanzabend mit Uraufführungen von sechs jungen Choreographinnen und Choreographen am Anfang ihrer Karriere.
  • Er besteht aus: „Layered, in figments“ (Emma Kate Tilson), „Line-up“ (Roberto Tedesco), „demons“ (Luis Tena Torres), „The Introversion Coda“ (Anat Oz), „FSK2“ (Michael Ostenrath) und „Holeah“ (Sofia Nappi).
  • Weitere Vorstellungen (Dauer: 1 Stunde 20 Minuten) sind am 15. und 30. Januar sowie am 5. Februar 2022 (jeweils 19 Uhr) im Schauspielhaus des Nationaltheaters zu sehen. Karten unter 0621/16 80 150.

Nach drei kommt vier, es folgt das Quartett, Stephan Thoss hat nämlich für die „Silvester-Spezial-Premiere“ gegen den Jahresschluss-Countdown nach oben gezählt. Choreographiert hat es die Israelin Anat Oz, die mit „The Introversion Coda“ ihren beim „35. Internationalen Wettbewerb für Choreographie Hannover“ gewonnenen „NTM-Produktionspreis“ einlöst. Zu Léon Minkus’ Musik des Grand Pas de deux aus dem Ballett „Don Quixote“ setzt sie vier Tänzer auf alle Viere. Silvia Cassata, Dora Stepusin, Lorenzo Angelini und Pascal Michael Schut arbeiten sich in der augenscheinlich perfekten Welt des Klassischen Balletts am weitaus weniger illusionistischen Dreiecksverhältnis Choreographin-Tänzer-Publikum ab. Besagtes (mit Zwischenapplaus eingespieltes) Grand Pas de deux wird zur Nummernrevue: individuelle Bravourversuche handaufgezogener Puppen. Diese Setzung will die zwischen Posse und Pose schlingernde Ballett-Parodie durchbrechen. Meistens gelingt das auch.

Bewusst anorganisch, mit heftigen Bewegungsabbrüchen arbeitet hernach Michael Ostenrath in seinem Quintett „FSK2“. Zu futuristischen Klängen von Aisha Devi liefert der ehemalige Tänzer der Dresden-Frankfurt-Dance-Company „postapokalyptischen Cyberpunk“, zu verstehen als ästhetische Zukunftsvision, in der auch in klassisch basierten Hebefiguren auch mal kunstvoll gekrampft werden darf. Etwas unfertig vielleicht, aber neugierig macht es.

Wahn und Sinn des Menschen

Mit dem großen Ensemblestück „Holelah“ legt Sofia Nappi buchstäblich ein Wahnsinnsstück hin. Dem biblischen Wort dafür widmet die Italienerin ihr fulminantes Finale und untersucht Wahn und Sinn als Motoren menschlichen Strebens. Da passt es, das besonders zu Vivaldis „La Follia“ Funken fliegen. Nappi zeichnet ein barockes Wimmelbuch choreographscher Raffinesse und Üppigkeit. Am Schluss steht Harmonie - und sehr herzlicher Applaus für eine besondere Premiere.

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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