Musiktheater - Calixto Bieito zeigt am Nationaltheater Mannheim einen magischen Abend mit Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“

Calixto Bieito brilliert am Nationaltheater Mannheim mit „Lenz“

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Liebe und Gewalt: Joachim Goltz (Jakob Lenz) wird von Josefin Feiler (Friederike) malträtiert. © Christian Kleiner

Mannheim. Wo ist die Hoffnung an diesem Abend? Woher soll hier überhaupt auch nur ein Funke Zuversicht kommen, wo doch alles in Auflösung begriffen ist. Zerfällt. Scheitert. Stirbt. Kinder, unschuldige Mädchen und Buben, werden mit Klebeband an Wänden fixiert, ein toter Baumstumpf wird, so wild und brutal wie sinnlos, mit einer Axt malträtiert, und das Leben der Titelfigur spielt verrückt: Jakob Lenz, Dichter des 18. Jahrhunderts, dem zuerst Georg Büchner in den 1830ern, dann Wolfgang Rihm 1979 ein Denkmal gesetzt hat, kauert auf dem Boden und singt, nein, schreit: „Hören Sie nicht diese entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich Stille nennt?“

Ein Moment höchster Erregtheit ist das, finsterster Düsternis zudem. Und Rihms Musik injiziert uns gleichzeitig ein unheimliches Vakzin in die Adern, das das Blut dort brausen, blubbern und brodeln lässt.

Endstation Schizophrenie. Totaler Überdruss. Menschendämmerung. Dabei kommt dieser bejubelte Abend am Nationaltheater Mannheim anfänglich aus der Helle, dem Weiß, der Farbe der Reinheit, Unschuld und klinischen Sauberkeit. Doch Regisseur Calixto Bieito hat mit Anna-Sofie Kirsch (Bühne) einen dermaßen aseptischen Einheitsraum kreiert, dass man der oberflächlichen Unbeflecktheit nie traut – zumal die Natur in der Mitte kreist. Mit einem toten Wald. Mit Musikern. Mit Menschen und deren Körperflüssigkeiten. Eine Welt menschlichen Makels.

Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ am Nationaltheater Mannheim

  • Wolfgang Rihm … ist der bekannteste, erfolgreichste und produktivste Komponist seiner Generation in Deutschlands. Der 1952 geborene Karlsruher vertritt musikalisch ungehemmt subjektive Ausdrucksweisen.
  • Jakob Lenz … ist eine Kammeroper von 1979 nach Georg Büchner. Sie erzählt in 13 Bildern vom Dichter Jakob Lenz, der ein getriebener, von der Vergangenheit gequälter und nie zur Ruhe kommender Mensch ist, der nach Gott, Liebe, einem Freund und Sinn im Leben sucht – und nicht findet. Seine Bekannten Oberlin und Kaufmann sehen am Ende, dass sie nichts mehr für ihn tun können – und verlassen ihn.
  • Termine … am 17., 22. und 30.12
  • Info … unter 0621/1680 150.

Rihm: Kein „Operchen“

Mitunter wirkt die neue Mannheimer Version von Rihms frühem Meisterwerk wie der Gegenentwurf dessen, was Andrea Breth 2014 in Stuttgart gezeigt hat. Breth kam vom Schwarz und zeigte Figuren in weißen Kitteln, Bieito kommt vom Weiß und geht nur vorsichtig in eine matte Farbigkeit von Schwarz, Braun und Grau. Einzig Blut und das rote Kleid von Lenz’ imaginierter Geliebter Friederike treten als Knalleffekte hervor.

Es sei „kein Operchen“, schrieb Rihm zu seinem Werk, das mit elf Musizierenden besetzt und unter Fußballspiellänge die Verniedlichung nahelegt. Was er meint: „Lenz“ ist keine Kleinigkeit. Rihms frühe Meisterschaft lässt sich schon daran ablesen, dass er dem 1751 geborenen Dichter und Goethe-Freund Jakob Michael Reinhold Lenz ein stimmiges Psychogramm liefert, von dessen manischer Depression und Schizophrenie erzählt. Seine Musik kennt dabei keine Grenzen und bedient sich, wenn man so will, am Kiosk verfügbaren Materials – von renaissanceartigen Chorsätzen über Rezitativisches bis hin zu avantgardistischen Klangreliefs – Romantik inklusive. Es handelt sich eben um Rihms radikalen Subjektivismus, bei dem raus kommt, was raus muss. Und das hat beim Karlsruher Rihm immer hohe Qualität.

Bieito freilich geht sogar weiter als Büchner und Rihm. Am Ende sind alle im Zustand des Scheiterns angelangt. Glücklich wird hier keiner. Nicht Lenz’ Freund Kaufmann. Und auch nicht Pfarrer Oberlin, der Lenz zu sich aufnimmt. Dass Bieito, der wohl problematische Erfahrungen mit dem Katholizismus gemacht hat, den Pfarrer als Vorlage nicht auslässt, um einen Verweis zu Homoerotik und Kindesmissbrauch zu machen, überrascht nicht. Als Lenz bei Oberlin ankommt, umschlingt ihn der am Boden liegend sofort mit Hand und Fuß.

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, sagt Lenz einmal die Evangelien zitierend, und so, wie das Joachim Goltz macht, klingt da auch das universale Künstlerschicksal als Passion mit: Denn Lenz ist freilich einer, der in einer Gesellschaft nicht zurechtkommt, die all seine Gedanken und Gefühle nicht versteht, ihn abtut als Subjekt jenseits angepasster Freizeit- und Unterhaltungskultur, ihn schließlich opfert als einen, dem die positivistische Welt nicht ausreicht.

Dies ist ja auch die politische Komponente von Werk und Abend, den Bieito, als Skandalregisseur apostrophiert, alles andere als skandalisierend auf die Bühne bringt, sondern konzentriert intelligent. Franck Ollu bringt das NTM-Kammerensemble zu plastischen Großtaten und schafft mit den Solisten einen vibrierenden Klangraum. Joachim Goltz’ Lenz ist nicht weniger als sensationell, er falsettiert so gut wie er winselt, wimmert und baritonal brilliert. Eine Meisterprüfung der Opernkunst. Patrick Zielkes Oberlin steht dem stimmlich in nichts nach. Immer wieder beeindruckend ist seine voluminöse, schwarze Tiefe. Auch Raphael Wittmer setzt als Kaufmann sämtliche tenoralen Farben frei. Die Stimmen von Josefin Feiler, Rebecca Blanz, Marie-Belle Sandis, Maria Polanska, Serhii Moskalchuk, Marcel Brunner sowie dem Kinderchor von Anke-Christine Kober leuchten in dieser faszinierenden Produktion, die erneut zeigt, in welch fabelhafter Verfassung Mannheims Oper ist.

Dass Oberlin den Lenz schließlich (ganz kurz) auf dem Kopf stehen lässt, ist ein humoristischer Verweis auf Lenz’ Wunsch, die Welt einmal ganz anders zu sehen. Bieito hat gezeigt, dass genau dieses Ansinnen einer Gegenwelt der Kunst gelingen kann. Vielleicht ist das ja der letzte, der einzige Hoffnungsschimmer dieses eindrucksvollen und tollen Abends.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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