Was steht über diesem Abend? Was will, soll, was kann er uns bedeuten? Ist es die vielzitierte Flucht vor den Grausamkeiten der Welt, von denen der Philosoph Friedrich Nietzsche in seinem vielzitierten Satz sprach, nach dem wir die Kunst haben, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen? Ist es jenes Wonderland, in dem Autorin Lewis Carroll virtuos Verhältnisse schrumpfen und wachsen lässt? Oder ist es doch jener schönste Abendstern, den Elina Duna gleich zu Beginn des zweiten Sets in der Mannheimer Christuskirche steigen lässt? Sie, die albanisch-schweizerische Sängerin, widmet sich, begleitet von den sphärischen Echo-Gitarrenklängen Rob Lufts, dem Volkslied der Eidgenossen mit einer gewissen Todessehnsucht: „Wenn i di vo Witem gseh, / Düecht’s mi, wenn i scho bi der wär“ (Wenn ich dich von weitem sehe, kommt’s mir vor, als sei ich schon bei dir) singt sie vollkommen innig und bei sich.
Egal. Es ist eine Gegenwelt zu den Schrecken. Zu Gaza. Zur Ukraine. Zur Klimakatastrophe. Und ein Höhepunkt. Das darf man sagen, auch wenn man bei weitem nicht alles erlebt hat, was Rainer Kerns Enjoy Jazz für 15 000 Fans zum 25. Festivalgeburtstag aufgefahren hat. Die Stimmungsskala nach oben ist ja nicht unendlich. Mit der Besucherzahl indes ist Kern noch nicht in vorpandemischen Zeiten angelangt, wie er 2022 noch hoffte. Ein Grund: Wie der Heidelberger Frühling fehlte auch ihm die Stadthalle für große Konzerte. 20 000 Besucher und mehr sind da noch nicht in Sicht.
Alle andere als „zum Einschlafen“
Dafür aber „Jazz und mehr“, wie das Festival sich selbst ja untertitelt. Und das „Mehr“ stand im Abschlusskonzert direkt vor Elina Duna und trägt den Namen Szófia Boros. Eine klassische Gitarristin. Das klingt zunächst unspektakulär nach Zeiten, in denen Musikfans noch Platten von Narciso Yepes, Andrés Segovia und Julian Bream kauften. Tatsächlich befindet sich die Musik von Boros auf einer iTunes-Playlist namens „Zum Einschlafen“. Doch das ist definitiv falsch, ungerecht und böse.
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Boros rockt nämlich die Christuskirche. Sie rockt sie nicht nur mit der Zugabe „Fuoco“ von Mathias Duplessy, bei der sie dionysisch einige perkussive Spielarten des Flamenco zur Anwendung bringt (und das Publikum zum Feiern). Sie tut es sonst auch auf ungeheuer virtuose Art, wenn sie etwa in „De rêve et de pluie“ (Von Traum und Regen) äußerst dezent und nobel ihre wunderschön einfachen Melodien von wirbelnden, wuselnden Begleitfiguren absondert und in eine meditative Klanglandschaft entführt, die so schön wie romantisch wie fantastisch ist. Alles ist hier wunderlich, leicht, schwebend und unverrückbar perfekt. Es ist - man darf’s hoffentlich sagen - utopische Musik von einer besseren Welt, die fast religiöse Qualität erlangt.
Bei Duni mit ihrem glockenhaft reinen Sopran und Rob Luft ist es eher eine Art universeller Aufbruch, der durch das Amalgam alter Gedichte und Volkslieder verschiedener Kulturen entsteht und immer zwischen albanischer Tradition und modernem Jazz irisiert - stets im modernen Klangkosmos des sagenhaften Saitenkünstlers Rob Luft, Bassist Kiril Tufekcievski und Drummer Viktor Filipovski. Die albanischen und arabischen Stücke heißen „Kur më del në derë“ oder „Lamma bada yatathanna“ und erinnern gern auch an die poetischen Hochflüge des Osmanischen Reiches, bisweilen fühlt man sich ins Serail von Sultan Mehmet II. entführt. Ein Manifest für Menschlichkeit, ein würdiger Abschluss.
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