Normalerweise wäre jetzt Vorfreude angesagt. Denn eigentlich sollte ab 11. Juni nach einem Jahr Festivalpause das zehnte Mannheimer Maifeld Derby über vier Bühnen am Mannheimer Reitstadion gehen. Mit Zugpferden wie Caribou, DJ Shadow, Sophie Hunger oder Sampa The Great. Aber was ist schon normal in Pandemie-Zeiten. Immerhin: Es gibt berechtigte Hoffnung, dass das Indie-Pop-Festival von Timo Kumpf am ersten Septemberwochenende als reine Freiluftveranstaltung stattfinden kann. Und wie als popkulturelle Überbrückungshilfe geht am Freitag der 45-minütige Maifeld-Derby-Dokumentarfilm „Von Ponys und Dollars“ auf YouTube online. Der Titel spielt auf das Festival-Leitmotiv Reitsport und die eigene Währung, den Derby Dollar, an – und legt so schon elegant den Fokus auf das Spannungsfeld zwischen kulturellem Anspruch und Wirtschaftlichkeit, nicht nur beim Mannheimer Vorzeige-Event.
Hommage an Festival-Kultur
Schon der Beginn verursacht bei Festival-Fans nach 15-monatiger Zwangspause einen Mix aus widersprüchlichen Gefühlen: Die unbeschwert fröhlichen Bilder vom Derby 2019, als Corona nur ein Bier war, stimmen wehmütig, wirken tröstlich und wecken Vorfreude auf den September. Eigentlich egal, wer bei den dann geltenden Einreiseregelungen beim Derby starten kann.
Denn eine der Beobachtungen der Mannheimer Filmemacher Lena Paul, Aaron Tsangaris und Donni Schoenemond von GALLIONfilm ist: Über neun Jahre lang hat sich Kumpf mit exzellenten Programmen, extremem Qualitätsanspruch, Liebe zum Detail und viel Selbstausbeutung, auch von seinem hochmotivierten Team, das größtenteils aus Freiwilligen besteht, das Vertrauen seines Publikums erarbeitet. Alle wissen: Auch wenn man vorher kaum einen Namen auf dem Derby-Tableau kennen sollte, schlechte Bands sind nie dabei. Dieses Rock-Event funktioniert wie etwa ein Filmfestival: Es arbeitet am Geschmack des Publikums, schafft Sichtbarkeit für spannende Nischen – Kuratorenarbeit.
Wechselbad der Gefühle
So arbeiten die Filmemacher heraus, dass Kumpf eigentlich einen selbsterteilten Bildungsauftrag erfüllt: Er führt das Publikum auch mit Bands zusammen, die allein noch nicht so große Bühnen füllen würden, wie Produzentin Nova oder Rockmusiker David Kirchner im Film bestätigen. Dass das nicht die übliche Festival-Sause für betrunkene Teenager ist, diese Botschaft ist auch bei der Stadt Mannheim angekommen, die beschlossen hat, das prestigeträchtige Derby nach der selbstverordneten Pause 2020 zu unterstützen. Auch der Film macht mit Hilfe von Branchenexperten klar, dass in Mannheim eines der wenigen E-Rockfestivals entstanden ist, das ohne Gewinnerzielungsabsicht wichtige Kulturarbeit leistet.
Ginge es nur um solche Punkte, könnte man „Von Ponys und Dollars“ jederzeit als Werbefilm bei Sitzungen von Fördergremien einspielen. Aber in der Engführung auf Timo Kumpf wird der Film zum spannenden Porträt eines äußerst ungewöhnlichen Veranstalter-Typen, Musikers und Popakademie-Absolventen. Sein Wechselbad der Gefühle wirkt stets authentisch. Es reicht vom „besten Wochenende meines Lebens“ am Ende des Derbys 2019 über die Bewältigung der sechsstelligen Finanzlücke durch das Zeltfestival 2019 bis zum Übergang von der Auszeit mit Blick auf die Work-Life-Balance in der Corona-Krise. So offen wird man kaum jemanden aus der auf Ausverkauft-Meldungen und sponsorentauglichen Hochglanz gedrillten Live-Branche über Probleme reden hören – im oft schmerzhaften Spagat zwischen Selbstverwirklichung und -ausbeutung. Schon gar nicht im Odenwälder Wohnzimmer im Austausch mit der eigenen Mutter.
Andererseits schlagen Paul, Tsangaris und Schoenemond über zwei Jahre mit Hilfe von Gesprächen mit Fachleuten auch die großen Bögen: Was können Festivals für Publikum, Kreative und Veranstalter bedeuten?
„Wir kennen Timo und das Maifeld Derby lange und haben in der Vergangenheit schon für die festivaleigenen Aftermovies gedreht“, erklärt Lena Paul auf Anfrage. Das Derby sei für sie immer ein Beispiel dafür gewesen, „was Festivals auch sein können, wenn sie mutig sein dürfen und wollen. Gleichzeitig treibt uns die Frage nach den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Pop auch schon lange um: Ist es nur unter selbstausbeuterischen Bedingungen möglich, spannende Musik zu machen und unter die Leute zu bringen, oder muss das auch anders möglich sein?“ 2019 sei dann „der Schocker“ gekommen, dass Kumpf mit dem Derby pausiert. „Da haben wir uns als Team kurz vor dem letzten Festival zusammengefunden, und es war schnell klar: Da steht eine für Mannheim kulturell wichtige Veranstaltung auf der Kippe – wir müssen diesen Film jetzt machen!“
Prekäre Arbeitsverhältnisse
Tsangaris erläutert: „Der Film ist letzten Endes ein Langzeitprojekt geworden, was ursprünglich gar nicht so geplant war. Wir haben Timo über zwei Jahre begleitet, in denen nicht nur bei ihm viel passiert ist, sondern auch wir viel gelernt haben. Erst im Prozess ist uns das ganze Ausmaß des Hauptthemas im Film bewusst geworden: Selbstausbeutung im Kulturbetrieb, der inhaltlich und nicht finanziell getrieben ist.“ Für die Arbeit von GALLIONfilm an dem Projekt habe das vor allem viel Recherche und lange Gespräche über die Ausrichtung des Films bedeutet.
„Als wir tief im Stoff drin waren, kam die Corona-Krise hinzu, mitsamt ihren drastischen Auswirkungen auf Kulturschaffende. Die Offenlegung der oft prekären Arbeitsverhältnisse, die das Virus zwar sichtbarer gemacht, aber nicht verursacht hat, verdeutlichte, wie wichtig es ist, das Thema als Dokumentarfilm festzuhalten.“ Das ist gelungen – und bleibt immer auch eine Liebeserklärung an Festivalkultur an sich.
Dokumentation zum Maifeld-Derby
- Die 45-minütige Maifeld-Derby-Dokumentation „Von Ponys und Dollars“ ist ab Freitag, 11. Juni, 19 Uhr, auf YouTube über den Kanal des Magazins „Musikexpress“ zu sehen (einfach mit dem Filmtitel suchen).
- Regie führten Lena Paul, Aaron Tsangaris und Donni Schoenemond. Das Trio von der Mannheimer Firma GALLIONfilm produzierte den Film auch über einen Zeitraum von zwei Jahren und schrieb zusammen mit Philipp Kohl das Drehbuch.
- Das zehnte Maifeld Derby hat Veranstalter Timo Kumpf pandemiebedingt auf das Wochenende vom 3. bis 5. September 2021 verschoben. Das neue Line-Up gibt er im Juli bekannt (www.maifeld-derby.de).
- Es soll als reine Freiluftveranstaltung stattfinden, mit der Hauptbühne im Mannheimer Reitstadion.
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