Nationaltheater

Yona Kims „Ring“-Versuche aus der Zukunft am Nationaltheater

Yona Kims „Siegfried“ ist dank großartiger musikalischer Leistungen und obwohl die Regisseurin mit einer steten Vermeidungsstrategie arbeitet ein Erfolg - "Der Ring des Nibelungen" am Nationaltheater Mannheim nimmt Fahrt auf.

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Stefan M. Dettlinger
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Zerbricht Wotans Speer und geht durch die Feuersbrunst um Brünnhilde: Weltstar Stefan Vinke (Siegfried). © Maximilian Borchardt

Mannheim. Vielleicht ist das alles hier ja auch ganz anders. Vielleicht sind wir irgendwo in der Zukunft gefangen und ein paar durchgeknallte Typen, Kulturarchäologen oder so, haben die irrwitzige Idee, ein altes verschollenes Werk auszugraben. Und zu spielen. Problem eins dabei: Die Welt ist mittlerweile so dematerialisiert, abstrahiert und auf digitale Welten beschränkt, dass Dinge wie Speere, Schwerter oder Tarnkappen nicht mehr existieren. Von Drachen ganz zu schweigen. Man hat eine Ahnung, wie sie mal aussahen, kann sie aber allenfalls noch als Bilder rekonstruieren. Auch Orte, Berge und Täler, gibt es in dieser, der künftigen Welt nicht mehr. An Wände projizierte Regieanweisungen mit Beschreibungen wollen sie ersetzen, laufen aber ins Leere. Mit Kommunikation, mit Gefühlen, Liebe und Sex ist es ebenso - alles funktioniert irgendwie gestisch und telepathisch wie in Woody Allens „Der Schläfer“. Und dann Problem zwei: Das Werk heißt „Der Ring des Nibelungen“, ist 15 bis 16 Stunden lang und von Richard Wagner.

Den Problemen eins und zwei stehen aber auch zwei Wunder gegenüber: 1. Dieser „Ring“ am Nationaltheater Mannheim rundet sich zum musikalischen Faszinosum mit spektakulären Orchester- und Sängerleistungen. Alexander Soddy hätte sich keinen besseren GMD-Abschied aussuchen können. 2. Die Zeit. Sie wird, zumindest jetzt bei „Siegfried“, nie zu lang (nur dort, wo Wagner zu lang ist), alles ist immer so konzentriert und anders und überraschend und, ja, auch ein bisschen unbeholfen, dass man sich stets fragt: Mal sehen, wie Yona Kim, die Regisseurin dieses Abends, diese Stelle wieder löst.

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dpa
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Das System: Systemlosigkeit

Dass hier Schwerter nicht geschmiedet, Speere nicht zertrümmert, Drachen nicht getötet und Körpersäfte nicht ausgetauscht werden - logisch. Bei Letzteren am Ende des - eine ewige dreiviertel Stunde dauernden - Liebeserweckungserlebnisses von Siegfried und Brünnhilde („Das ist kein Mann!“) werden schließlich kubistisch anmutendende Fotokollagen gezeigt: Zungen lecken Geigensaiten, Celli werden zwischen Beine gepresst, blutige Laken über Bässe gestreift - ja, da war doch was: Hier sind es ja die Instrumente, die (von Blut) erzählen, und Brünnhilde war doch Jungfrau. Laut Brünnhilde.

Es bleibt zwar dabei: Unsagbares, Unzeigbares und Unlösbares löst Kim irgendwie mit Verlegenheit. Eine richtige Richtung hat die Produktion nicht. Akzeptiert man aber die Geschichte der Leute aus der Zukunft, die auf der vergeblichen Suche nach der Aufführbarkeit des Werkes sind, macht alles irgendwie Sinn - auch, dass so manches vollkommen abstrakt gespielt wird, anderes dann doch wieder mit Fleisch und Blut. Das System heißt hier ganz offenbar: Systemlosigkeit.

Dazu passt, dass nichts passt. Kein Ort. Keine Zeit. Kein Stil. Alles durcheinander. Die Menschen im Jahr 2184 sind halt Unwissende. Das dritte, bislang verschwiegene Wunder ist, dass derart dennoch fantastische und auch raffinierte Bilder gelingen. Zu Siegfrieds Nothung-Schmiedelied mit dem berühmten „Blase, Balg!“ zeigt Benjamin Jantzens Video etwa die Wolken von Atombombenexplosionen, der Verweis ist klar: Beides sind Wunderwaffen mit erhöhter Tötungsgefahr. Auch mit Florian Arnholdts Licht und Anna-Sofia Kirschs Glitzervorhang gelingt mithin Magisches. Doch schöne, attraktive Bilder zu schaffen, macht keine Opernaufführung. Entscheidend sind Personenführung und Psychologie. Und die sind nicht ganz schlecht bei Kim, so heterogen das auch daherkommt. Man erkennt Wagners Figuren deutlich, dringt immer wieder tief in sie ein. Dass dabei der Scherzo-Charakter vor allem von Szene I an Mimes Schmiedeherd total misslingt - geschenkt. Es gibt ja den Text.

Vinkes grenzenlose Möglichkeiten

Und die Musik. Soddy gelingt mit dem Nationaltheaterorchester im Prinzip alles. Gleich der finstere Beginn mit den grübelnden Fagott-Terzen gerät rabenschwarz, das punktierte Bratschen-Pochen im Schmiedemotiv und der Aufbau des Klangs im Allgemeinen. Alles stimmt. Jeder Schlag, jedes Crescendo, jedes Aufzugsende kommt auf den Punkt. Der Klang hat die optimale Mixtur von Streicher-, Holz- und Blechbläserklang und ist zudem so, wie man es aus der Soddy-Ära kennt: kompakt, kontrolliert, doch jederzeit bereit, die Krallen auszufahren, die Sinne in sich horizontal ausbreitende Streichergewebe hineinzuziehen oder sich so zurückzunehmen, dass die Sängerinnen ihre Stimmen auf ein Bett aus dem Graben legen können.

Und das tun sie. Stefan Vinke hätte Rücksicht zwar nicht nötig. Der frühere jugendliche NTM-Heldentenor und heutige Weltstar, der Siegfried auch in Bayreuth mehrmals sang, begeistert nämlich mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten im Forte und in der Höhe, die er, wie im Schmiedelied mit seinen vielen hohen A’s, locker ansetzt und stets mit einer Optimalmischung aus stämmiger Bruststimme und matt glänzenden Obertönen übers wild stampfende Orchester setzt. Faszinierend. Dass er wenig ins Lyrische zurückgeht, farblich auf Dauer etwas monochrom bleibt - man verzeiht es sehr gern, schließlich gibt es weltweit vielleicht eine Hand voll solche Siegfriede. Im Duett mit der seit Jahren hinter Feuer auf dem Walkürefelsen schlafenden und also ausgeruhten Brünnhilde Lise Lindstrom hat er, wie sonst viele, keinerlei Probleme, obwohl Lindstrom ebenso ein ganz schönes Organ hat und vor allem in der Höhe viel Kraft entwickelt. Die beiden sind ein Traumpaar. Nichts wabert und wackelt in diesem elend langen Flirt.

Dass Patrick Zielkes Fafner mit Flüstertüte wieder ein knurrendes Erlebnis werden würde, war so klar wie Joachim Goltz’ brillanter und durchaus komplex und farbenreich angelegter Alberich. Fast tut er einem leicht, der doch im Recht ist. Idealmime Uwe Eikötter bleibt mit seinen vielen Charakterisierungsmöglichkeiten einfach alternativlos, und Julia Faylenbogens mit Stock auf die Bühne geführte Erda (nomen est omen: erdig, tief und wuchtig) sowie Mirella Hagens luftig-leichter Waldvogel (leicht schimmernd und mit Eros) vervollständigen das Ensemble, in dem dann noch er fehlt: Göttervater Wotan, der als Wanderer weitgehend auf Loge 1 zum lächelnden Zuschauer geworden ist. Renatus Mészár hat bei „Heil dir, weiser Schmied!“ stimmlich kleine Anlaufschwierigkeiten, wird im Laufe des Abends aber immer besser und, besonders in der Mittellage, sehr ausdrucksstark.

Der Abend ist trotz einiger Buhs fürs Regieteam ein Riesenerfolg. Zehn Minuten lang wird gefeiert. Nach dem Durchhänger „Walküre“ nimmt der Kim-„Ring“ wieder Fahrt auf. Wir dürfen nur nicht nach dem einen Erzählansatz und Knackpunkt suchen, sondern aus der Zukunft auf das Experiment zurückblicken …

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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