Ein schönes Bild: Zwei ältere Herren fallen sich gerührt um den Hals. Der eine, Marcel Reich-Ranicki, damals 84, der andere, Walter Jens, gerade drei Jahre jünger. Der Literaturkritiker und der Tübinger Rhetor kannten sich seit mehr als 50 Jahre, zehn davon haben sie in Feindschaft zugebracht. Und doch hatten sie sich einmal versprochen: "Wer von uns beiden den anderen überlebt, hält die Trauerrede am Grab des Verstorbenen." Dabei hatte der Tübinger Professor für Rhetorik emeritus seinerzeit den schönen Satz über den geistesverwandten Lessing geschrieben: "Was immer er war . . . zuerst war er Redner." Eine Art Lebensmotto auch für Jens selbst.
Jens hat die "Orestie" des Aischylos und die "Antigone" des Sophokles übertragen, das Matthäus-Evangelium und die "Offenbarung des Johannes" in eine zeitgemäße Sprache gebracht. Als Literaturkritiker, als Autor von Romanen, Essays, Hörspielen hatte er sich schon während der "aktiven" Zeit der "Gruppe 47" einen Namen gemacht. So jemand wie Jens, der, aus Hamburg gebürtig, in Tübingen, der Stadt von Hölderlin, Hegel, Ernst Bloch und Hans Mayer zu Hause ist, verstand es, Theologie, Literatur, Kulturgeschichte, auch die Politik aufs Glücklichste miteinander zu verbinden.
Dazu die enorme Begabung zum öffentlichen Wort. So jemand rief natürlich auch Gegner auf den Plan. Denn meistens war es zwar Genuss, dem wortgewaltigen Jens zu lauschen. Aber seine inhaltsschweren Meinungsäußerungen zum Weltgeschehen im Großen wie im Kleinen konnte nicht jedermann nachvollziehen. Doch die meisten sahen in ihm wohl zuerst den linksliberalen Anwalt der Humanität. Und umso deutlicher ihm diese moralische Reputation zuwuchs, desto lauter meldete sich die Kritik, als man auf seiner weißen Weste einen braunen Klecks auszumachen glaubte.
Debatte um NSDAP-Eintritt
So einer wie Walter Jens konnte sich nicht an seinen Eintritt in die NSDAP erinnern? Als sein Sohn Tilman Jens die Demenz-Erkrankung des Vaters mit der Entdeckung seiner NSDAP-Mitgliedschaft zu erklären versuchte, war die Bestürzung über diese Indezenz bei Freund und Feind gleichermaßen groß.
Walter Jens hat sich immer als Bekenner verstanden und die Nazi-Zeit nachträglich als Jahre der ausgebliebenen und fehlgeleiteten Konfession angesehen. Das alles wollte er nach dem Krieg besser machen. Er war Pazifist. Für diese Gesinnung ist er rechtskräftig verurteilt worden, nachdem er vor den US-Depots in Mutlangen die Zufahrtsstraßen zu den Raketensilos mitblockiert hatte.
Reich-Ranicki hat ihn als "unseren Redner der Republik" bezeichnet. Aber Jens war kein Schönredner, sondern jemand, der auf Kenntnis, auf Wissen setzte. Im Alter hat er sich gemeinsam mit seiner Frau Inge intensiv mit den Familien von Thomas und Katja Mann beschäftigt. Der Ertrag sind mehrere kenntnisreiche, elegante Bücher. Bei alldem schien es bei Jens ein Reservat zu geben, das frei war von den Schwächen literarischer Eitelkeit. Auf die selbstgestellte Frage: "Warum ich Christ bin?" hat er geantwortet: "Weil ich mir keine verbindlichere, humanere und den einzelnen verpflichtendere Lebensanweisung als die Botschaft Jesu Christi vorstellen kann."
Trotz seiner fortgeschrittenen Demenz hat Jens, der am Freitag 90 Jahre alt wird, offenbar noch einen ungebrochenen Lebenswillen. Sie habe nicht das Gefühl, dass ihr Mann lebensmüde sei, hat Inge Jens vor wenigen Tagen gesagt.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-wortgewaltiger-anwalt-der-humanitaet-_arid,443028.html