Von Jagoda Marinic
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir feiern dieses Jahr das siebzigjährige Jubiläum des deutschen Grundgesetzes. Am 23. Mai 1949 wurde die rechtliche und politische Grundordnung der Bundesrepublik beschlossen. Der Weg der Frauenrechte in dieses Grundgesetz ist ein besonderer, weshalb ich in der heutigen Rede das Augenmerk auf das Thema Frauenrechte legen möchte. Wo stehen die Frauen heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts?
In jedem Fall möchte ich heute nicht hier reden, ohne einige Frauen zu uns in den Saal zu bitten, ohne die ich heute in dieser Form womöglich nicht hier stehen und eine „Mannheimer Rede“ halten würde. Jede gesellschaftliche Errungenschaft, für die man selbst nichts getan hat, verdankt man anderen, die etwas dafür getan und riskiert haben.
Ich möchte diese Rede also damit beginnen, Ihnen von Marie Juchacz zu erzählen. Sie werden sicher im Rahmen der Feierlichkeiten um das hundertjährige Jubiläum des Frauenwahlrechts von dieser bemerkenswerten Frau gehört haben. Ich fange deshalb mit ihr an, weil Marie Juchacz die erste deutsche Abgeordnete war, die eine Rede im Parlament hielt. Fast genau hundert Jahre ist das her, es war der 19. Februar 1919.
Im Protokoll der Nationalversammlung ist von allgemeiner „Heiterkeit“ die Rede, als der damalige Präsident einer Frau Abgeordneten Juchacz das Wort erteilte. Als Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sprach die erste Frau in der Weimarer Republik, nach den ersten Wahlen, bei denen Frauen wählen durften. Juchacz ergriff das Wort, stellte sich vor die Nationalversammlung und äußerte den vielzitierten Satz: „Ich möchte hier feststellen und glaube, damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa im althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden war.“
Anderer Lauf der Geschichte
Dieser Satz ist nicht umsonst in die Geschichte eingegangen. Er ist uns allen eine tiefgreifende Lektion in Sachen Demokratie und Menschenrechte: Wir haben für Menschenrechte nicht zu danken. Im Gegenteil: Jede Verweigerung von Menschenrechten ist ein Unrecht. Frauen weltweit wurden diese Menschenrechte jahrhundertelang vorenthalten. Frauen mussten Minderheitenkämpfe ausfechten, obwohl sie über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Marie Juchacz war Optimistin und glaubte: „Durch die politische Gleichstellung ist nun meinem Geschlechte die Möglichkeit gegeben zur vollen Entfaltung der Kräfte.“
Doch Deutschlands Geschichte nahm einen anderen Lauf als die volle Entfaltung der Kräfte, die Menschenrechte für eine demokratische Gesellschaft bedeuten. Deutschland verschuldete nach der Weimarer Republik die größten Verbrechen an der Menschheit. Voraus gingen grausame Menschenrechtsverletzungen. Keine Diktatur kommt über Nacht. Die Rechte von Frauen wurden früh beschnitten. Frauen sollten im Nationalsozialismus neben ihrer arischen Abstammung vor allem für Tugenden wie Pflichterfüllung, Treue und Opferbereitschaft wertgeschätzt werden. Über das Leben der Frauen sollten insbesondere Männer entscheiden. Mitspracherecht? Das entsprach naturgemäß nicht der Selbstlosigkeit, die von Frauen erwartet wurde.
Man könnte meinen, all die Frauen, die damals zum ersten Mal das Wahlrecht genossen, hätten sich gegen diese Einschränkungen gewehrt. War dem so? Nein. In den Jahren 1930 bis -32 wählten Frauen zunehmend die NSDAP. Die emanzipatorische Bewegung verlor viele Anhängerinnen. Man muss dazu sagen: Die NSDAP zeigte sich offen als reine Männerpartei. Schon zwei Jahre, nachdem Frauen das passive Wahlrecht erkämpft hatten, schloss die NSDAP aus, Frauen als Mitglieder der Parteiführung zuzulassen. 1933 stand nur noch eine Einheitsliste der NSDAP zur Wahl, und die Frauen verloren das eben erkämpfte Recht indirekt wieder.
Die Vermännlichung der Politik war ein Merkmal des Nationalsozialismus. Nicht die Emanzipation der Frau bewegte die Gesellschaft, sondern ihr Rückzug aus dem öffentlichen Leben. Hitler sagte 1934: „Das Wort der Frauenemanzipation ist ein nur vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort. Wir empfinden es nicht als richtig, wenn das Weib in die Welt des Mannes eindringt, sondern wir empfinden es als natürlich, wenn diese beiden Welten geschieden bleiben.“
Die Errungenschaften der Weimarer Republik wurden von den Nationalsozialisten wieder abgewickelt. Ein Rollback. Insbesondere in der Rechtsprechung wollte man Frauen nicht sehen, weshalb es 1934 ein Berufsverbot für Juristinnen gab, denn insbesondere das Recht zu wahren, sei Sache des Mannes.
Gründermütter der Bundesrepublik
Ich möchte nun vier weitere Frauen zu uns in den Saal bitten. Es sind vier bemerkenswerte Frauen, denen wir viel verdanken. Es sind die vier Mütter des Grundgesetzes: Elisabeth Selbert, Friederike Nadig, Helene Weber und Helene Wessel. Diese vier Frauen waren es, die neben den berühmten Vätern des Grundgesetzes, jenen 61 Männern des Parlamentarischen Rates, 1948 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erarbeitet haben. Das deutsche Grundgesetz gilt bis heute weltweit als beispielhaft. Es ist das Grundgesetz, in das die entscheidenden Lehren aus der Inhumanität geflossen sind. Dieses Grundgesetz verdankt es insbesondere einer Frau, dass darin auch Frauen einbezogen sind: Elisabeth Selbert.
Elisabeth Selbert schrieb 1920, im Alter von nur 24 Jahren: „Wir müssen nun dahin wirken, dass die Gleichberechtigung in der Praxis bis zur letzten Konsequenz durchgeführt wird.“ 1948/49 sorgt sie dafür, dass die Gleichstellung zum Grundrecht wird. Selbert war eine starke Frau aus einfachen Verhältnissen, die ihre Zulassung als Rechtsanwältin erhielt, bevor die Nazis Frauen den Zugang zu juristischen Berufen verweigerten. Im Auftrag der westlichen Siegermächte sollte sie als eine von vier Frauen mit 61 Männern die neue Verfassung für Nachkriegsdeutschland erarbeiten. Die eigenwillige Frau erfährt viel Widerstand in den eigenen Reihen, doch Kurt Schumacher, damaliger SPD-Parteichef, unterstützt sie.
Selbert kämpft um eine Verfassung, in der Gleichberechtigung festgeschrieben steht. Sie kämpft gegen Männer, die meinen, männliche Dominanz sei eine gottgegebene Ordnung. Wozu Gleichstellung, wenn der Mann doch Gutes für die Frau will?
Die Gründerväter des Grundgesetzes waren mitnichten begeistert von Selberts Forderung, Frauen die gleichen Rechte wie Männern zu sichern. Elisabeth Selbert war geschockt, doch nicht gelähmt. Sie mobilisierte andere Frauen in der Republik, suchte die Unterstützung der Frauenbewegungen. 40 000 Metallarbeiterinnen sandten Protestbriefe an den Parlamentarischen Rat. Abgeordnete wurden mit empörten Schreiben überschüttet. Mit all diesen Frauen im Rücken gelang es Elisabeth Selbert, die 61 Männer in die Knie zu zwingen, etwas wohlwollender könnte man sagen: auf ihre Seite zu ziehen.
Vom Kampf um Menschenrechte
All diesen Frauen, die Demokratie zu leben wussten, in Zeiten, in denen sie erst wieder auflebte, verdanken wir den Grundgesetzartikel 3, Absatz 2: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Für Selbert selbst war das „eine Sternstunde meines Lebens.“
Ich möchte diese Frauen heute hier mit uns im Raum wissen, weil ihre Geschichten exemplarisch sind für die Geschichte der Menschenrechte. Wir stellen uns vor, Menschenrechte, wie wir sie kennen, seien eine Selbstverständlichkeit, ein unveräußerliches Recht. Doch Menschenrechte wurden von Menschen erkämpft und müssen von Menschen durchgesetzt und verteidigt werden. Von Bürgerinnen und Bürgern. Manchmal müssen Bürgerinnen und Bürger sich für die Menschenrechte von Menschen einsetzen, die nicht Bürgerinnen und Bürger sind, denn Menschenrechte sind nicht gekoppelt an Staatsbürgerschaften oder Privilegien.
Zwischen Juchacz und Selberts historischem Momentum liegt nicht viel Zeit. Diese beiden Frauen zeigen uns, wie schnell das Erkämpfte verlorengehen kann. Die Demokratie ist nur sicher, wenn Sie von Demokratinnen und Demokraten gesichert wird. Die Geschichte von Marie Juchacz lehrt uns, wie Frauen auch gegen die Interessen von Frauen wählen können. Ein Phänomen, das sich soeben in den USA wiederholte, als viele Frauen trotz seiner sexistischen Sprüche für Trump stimmten.
Insbesondere Selbert zeigt uns, mit welcher Kraft Frau manchmal vorgehen muss, um Männer von ihrem Anliegen zu überzeugen. Doch die Geschichte zeigt auch, dass sich die Väter des Grundgesetzes von der Kraft der Frauen überzeugen ließen. Schumacher als Mann stand hinter ihr. In der Geburtsstunde des deutschen Grundgesetztes ist die weibliche Solidarität einmal wirklich gelebt worden. Männer wie Frauen können „Sheroes“ sein, so nenne ich die Held*innen in meinem neuen Buch. Jedes Recht, das Frauen seither erkämpft haben, basiert auf diesem einen Satz, den Selbert uns ins Grundgesetz schreiben ließ.
Meine Damen und Herren, man könnte jetzt hier stehen und sagen: Dann ist doch alles gut. Die Grundlage ist gut, doch es ist Zeit, dass es noch besser wird. Ich frage mich, welche Errungenschaften aus der Zeit, in der wir leben, werden die Menschen in hundert Jahren feiern? Im Moment werden wir Zeugen von Rückschritten: Die Zahl der Frauen in deutschen Parlamenten sinkt. Baden-Württemberg bildet das traurige Schlusslicht mit nur 24,5 Prozent Frauen im Landtag. In der Wirtschaft? Der Frauenanteil in deutschen Vorständen liegt im Jahr 2019 bei 8,6 Prozent. Viele ausländische Firmen nutzen die Vorteile innovativer Teams bereits. In Deutschland heißt es hingegen: Es wird besser, wenn Frauen gut genug sind. Weshalb sind sie im Ausland gut genug? Eine Studie der deutsch-schwedischen „AllBright Stiftung“ verglich Frankreich, Großbritannien, Polen, die USA und Schweden und zeigte: Ganz gleich, unter welchem Aspekt man den Frauenanteil in den börsennotierten Unternehmen verglich - die Autoren ziehen das Fazit: „Die deutschen Konzerne landen stets auf dem letzten Platz.“
Nun werden Kritiker einwenden, es gehe nicht um Posten für Frauen. Doch es geht um die Menschen, die unsere Lebenswelten gestalten. An Elisabeth Selbert habe ich Ihnen zeigen können, wie nur eine Frau Geschichte schreiben kann, weil sie ihre Perspektiven einbringt. Wo Frauen nicht sind, werden ihre Perspektiven nicht gehört werden. Wäre Selbert nicht mit am Tisch gesessen, gäbe es den Paragrafen der Gleichberechtigung nicht.
Sie wissen, wir leben in Zeiten, in denen die Errungenschaften, die das Grundgesetz uns allen brachte, wieder in Frage gestellt werden. Ein Beispiel sind die USA, Mutterland der liberalen Demokratie. Auch Europa kämpft diesen Kampf. Das Europa der Menschenrechte wird an seinen Grenzen einer harten Prüfung unterzogen. 70 Millionen Menschen leben auf der Flucht. Doch wie viele wissen, dass die Hälfte davon Kinder sind? Kinder von Frauen. Wie lassen sich deren Menschenrechte schützen?
Würde steht allen zu
Wir sind heute hier, um gemeinsam über Menschenrechte nachzudenken. Die Frauenrechte sind nur ein Beispiel. In Artikel 1 des weltweit bewunderten deutschen Grundgesetzes steht der Schutz der Würde des Menschen. Sie ist unantastbar. Die große Lehre aus der dunklen Geschichte dieses Landes: Würde steht nicht den einen mehr zu als den anderen. Sie steht allen Menschen zu. Ich möchte gerne mit einem Gedanken von Alexander Kluge schließen, der Ihnen erklärt, weshalb ich Sie so weit zurück in die Geschichte der Frauenbewegung mitgenommen habe: Nur, wenn wir die Erschütterungen kennen, die demokratische Gesellschaften bedrohen, können wir uns gegenseitig Sicherheit bieten. Gerade wir in Deutschland brauchen ein Geschichtsbewusstsein, um aus den Erschütterungen der Humanität als „Schutzgeimpfte“ hervorzugehen. Schutzgeimpft gegen das Unmenschliche, so nennt es Alexander Kluge.
Die Frauenbewegung ist zahlenmäßig die größte Menschenrechtsbewegung der Geschichte. Noch heute gibt es Weltregionen, in denen es um die Rechte der Frauen schlecht steht. Bei uns sind die gesetzlichen Bedingungen da. Wir können dafür sorgen, dass es in hundert Jahren heißt: Diese Generation hat die Frauenrechte endlich konsequent umgesetzt. Zu Beginn fragte ich: Ja, wo stehen die Frauen denn heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts?
Es wäre keine Ungerechtigkeit, nach all den Jahrhunderten zu sagen: Wir stehen am Anfang des Zeitalters der Frauen. „Yes, we can.“ Ja, wir können das. Wenn wir uns an die Kraft der ersten Heldinnen erinnern, die uns hierhergebracht haben.
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