Der Aufschlag ist hart. Nicht nur auf dem Betonboden des Tempelhofer Flugfeldes, auf dem der neue Intendant der Berliner Volksbühne, Chris Dercon, zur Saisoneröffnung tanzen lässt. Auch die spürbare Abwesenheit von Willkommenskultur beschert dem Nachfolger von Frank Castorf alles andere als eine weiche Landung. Eine Petition mit 40 000 Unterschriften gegen seinen Amtsantritt, ein ablehnender offener Brief des vormaligen Ensembles, die mehrfach geäußerte Ablehnung des Berliner Kultursenators und kritische Worte aller wichtigen Intendanten-Kollegen der Stadt erwarten den smarten Belgier, der nie zuvor an der Spitze eines Theaters gestanden, wohl aber Museen wie die Tate Modern in London oder das Haus der Kunst in München geleitet hatte.
Vorerst Verzicht auf Räumung
Und jetzt auch noch die Besetzung des Stammhauses am Rosa-Luxemburg-Platz. Eine Künstlerinitiative "Staub zu Glitzer" (gestern auf eine Handvoll dezimiert) hat die Volksbühne kurzerhand besetzt und zum Eigentum aller Menschen erklärt. Drei Monate lang soll das Haus zum "Parlament der Wohnungslosen", zum "Zentrum der Anti-Gentrifizierung" werden, wie es in einer Presseerklärung heißt. Neben einem festen Ensemble sollen freie Initiativen und Kollektive den Spielplan bestreiten. Senat und Theaterleitung verzichten vorerst auf eine Räumung und setzen auf Gespräche mit den Besetzern.
Zunächst muss Fremdverschulden konstatiert werden, das Dercon in Berlin das Leben schwermacht. Ohne Not hatte der inzwischen abgewählte schwarz-rote Senat den Vertrag des legendären Vorgängers Castorf nicht verlängert. Der Aufschrei war groß, denn Castorfs Volksbühne genoss Kultstatus, posthum wurde das Haus dieser Tage noch einmal als "Theater des Jahres" geehrt. Und ein Denkmal schleift man nicht.
Politiker gehen auf Distanz
Schon gar nicht, wenn der Nachfolger ohne große Findungsbemühungen vom eher kulturfernen Regierenden Bürgermeister Müller und seinem damaligen Kulturstaatssekretär Tim Renner aus dem Hut gezaubert wird. Selbst die Avantgarde lehnt zunächst einmal ab, was sie nicht kennt. Dann wird auch noch der rot-schwarze Senat durch Rot-Rot-Grün ersetzt, und Klaus Lederer, der neue linke Kultursenator, denkt sogar laut über den Ausstieg aus dem Vertrag mit Dercon nach, während Tim Renner nicht einmal mehr ausschließt, mit Dercon vielleicht einen "Fehlgriff" getan zu haben. Der Teufelskreis beginnt.
Aufgrund der unsicheren Rechtslage wagt kaum ein Schauspieler, sich einem Intendanten zu verpflichten, dessen Amtsantritt noch umstritten ist. Ohne Personal wiederum ist es schwierig, einen Spielplan zu gestalten. Und ohne Spielplan wachsen die Zweifel der Kritiker noch mehr.
Und nun ist er also da. Auf dem harten Boden der Realität und des Tempelhofer Flugfeldes macht Dercon aus der Not eine Tugend. Und die Not ist groß. Es gibt kein Repertoire, auf das man zurückgreifen kann, die Altstars René Pollesch, Herbert Fritsch, Christoph Marthaler oder auch Frank Castorf selbst haben aus Protest ihre Arbeiten weggesperrt. Dercon übernimmt das Haus besenrein.
Umsonst und draußen
Deshalb wird es noch mindestens bis November dauern, bis sich am Rosa-Luxemburg-Platz der erste Vorhang heben wird. Durch die Besetzung des Hauses vielleicht sogar noch länger. Bis dahin lässt Chris Dercon also tanzen. Hilfreich sind ihm seine guten Kontakte zur Szene, insbesondere zu Boris Charmatz. Der französische Choreograph bietet zur Spielzeiteröffnung 200 Tänzer auf, Jugendgruppen, Vereine und das Publikum bewegen sich rhythmisch, der Starchoreograph müht sich ab wie ein Animateur. Fast 15 000 Menschen sind gekommen über den Tag verteilt. Umsonst und draußen.
Im Flugzeughangar wird getanzt
Doch wie geht es drinnen weiter für das zahlende Publikum? Ebenfalls mit Aktionstheater. Für 20 Euro können die Zuschauer im Hangar 5 in Tempelhof sechs Stunden lang einen Tag im Leben eines Tänzers mit verfolgen. Oder für 15 Euro ein 50-minütiges Spektakel im Freien. Bei so viel Tanz wird schnell die Frage nach dem politischen Engagement gestellt.
Es ist dem Charme des Szene-Paradiesvogels Dercon zu danken, dass er in aller Welt seine Verbindungen nutzen und namhafte Künstler bitten kann, ihm jetzt in Berlin personell aus der Patsche zu helfen. Aber es fehlt noch immer ein Konzept, ein Ensemble und ein Stamm verlässlicher Regisseure. Dass Dercons Spielplan bislang noch nicht über den Januar 2018 hinausreicht, lässt die Sorgen des Kurators mit der Übernahme eines Theaters erahnen. Vielleicht sind so die kokett-selbstkritisch verteilten roten Zettelchen zu verstehen: "Volksbühne - no problem. Nur Probleme".
Verdienstvoll, aber ungeliebt
- Chris Dercon (Bild), 1958 in Lier (Belgien) geboren, studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und Filmtheorie.
- 1988 wurde er Programmdirektor am MoMA PS1 in New York, 1990 Direktor des Witte de With, Zentrum für zeitgenössische Kunst, in Rotterdam. Von 1996 bis 2003 leitete er das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam.
- Von 2003 bis 2011 war Dercon Direktor des Hauses der Kunst in München, danach von 2011 bis 2016 in gleicher Funktion an der Tate Modern in London tätig. Seit Anfang des Monats leitet er die Berliner Volksbühne. (Bild:dpa)
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