Angst hat er nicht vor der Volksrepublik. Er stehe sicherlich nicht auf der primären Liste chinesischer Staatsfeinde, sondern eher auf Liste B oder C. Dennoch zieht Pat To Yan es vor, erst im Spätsommer, nach dem Besuch von Staatspräsident Xi Jinping, mal wieder zurück in seine Heimat zu reisen: nach Hongkong, die Sonderverwaltungszone an der Südküste an der Mündung des Perlflusses.
Pat To Yan sitzt im Foyer des Nationaltheater Mannheim. Sneaker. Jeans. T-Shirt. Ein junger, moderner und aufgeweckter Mann, der gerade noch Hausautor am Nationaltheater ist. Er lächelt und spricht ein schnelles, fließendes Englisch. An Fronleichnam wird sein erster Operntext gewissermaßen den Mannheimer Sommer eröffnen. „The damned and the saved“ ist auch für die schwedische Komponistin Malin Bång das erste Werk fürs Musiktheater, das Regisseurin Sandra Strunz inszeniert hat - auch sie eine Debütantin auf der Opernbühne. „Drei Anfänger“, sagt Pat To Yan. Und lächelt etwas verlegen.
Die Unbeherrschbarkeit
„The damned and the saved“ ist ein krasses, extremes Stück. Es irritiert, verstört und schockiert mit expressiven Impressionen aus einer harten Welt voller Verfolgung, Folter und Sühne - all das mit exzessivem Einsatz perkussiver Elemente und Extrem-Darstellungen von erlebter Gewalt, gezwungener Sexualität und todesnahem Schmerz, wie im Mai auf der Biennale in München zu erleben war, wo das Werk bereits seine erfolgreiche Uraufführung erlebte.
Passt das Thema dieses Werks über den Widerstand gegen eine Maschine, eine Art KI, die mit nach Demonstrationen liegen gebliebenem Müll gefüttert wird, um knallhart Systemgegner zu verfolgen, zum Thema dieses Mannheimer Sommers? Mal sehen. „Lasst uns starten!“ lautet ja das Motto von Macher Jan Dvorák, und er verfolgt damit mehr eine Bezugnahme der Aufklärung zur Umweltzerstörung, während Yans Themen Widerstand gegen Künstliche Intelligenz, totalitäre Regime und das „Posthumane“ sind.
Doch vielleicht hat die Hoffnung auf die langfristige Unbeherrschbarkeit des Menschen durch Diktaturen auch mit jener der Natur zu tun. „Was die Umwelt angeht, hat uns die Aufklärung aber auch in ein großes Problem geführt“, sagte Dvorák noch Anfang des Jahres im Interview mit der Redaktion: Was man verstehe, könne man beherrschen, ausbeuten, benutzen. Nun steckten wir „in einer historischen Krise. Die schöne Naturerkenntnis der Aufklärung muss deshalb heute über sich selbst aufgeklärt werden - über ihre fatalen, ungewollten Auswirkungen, so Dvorák.
So startet das Festival auch bereits nachmittags mit dem sogenannten Roll-Out, eine Art Demo-Züge zum Festival-Zentrum auf dem Mannheimer Goetheplatz, drei musikalische Paraden gegen die Erkenntnisse der Aufklärung, die statt zu allgemeiner Glückseligkeit „zur schlimmsten ökologischen Katastrophe seit dem Aussterben der Dinosaurier geführt“ haben.
Bis zum 26. Juni geht es also um die Zerstörung der Welt und natürlich - „Lasst uns starten!“ - darum, wie wir sie beenden können. Mit Texten wird das Thema beleuchtet, mit Happenings, Filmen, Konzerten, Salons, Workshops und anderen Formaten, ja, auch klassische Gattungen wie die Oper sind dabei: mit der „Entführung aus dem Serail“ etwa, hier allerdings in einer neuen Dialogfassung der türkischen Autorin Asli Erdogan, die Mozarts Werk in einer Welt spielen lässt, in der die Gegensätze von Orient und Okzident längst aufgelöst sind.
Pat To Yan und der Mannheimer Sommer
- Pat To Yan: Der Dramatiker und Regisseur (Bild) wurde 1975 in Hongkong geboren, studierte dort Englische Literatur und Soziologie sowie Szenisches Schreiben in London. Aktuell ist er Hausautor am Mannheimer Nationaltheater. Abgelöst wird er im Herbst von Anastasiia Kosodii aus Saporischschja, Ukraine.
- Mannheimer Sommer: Pat To Yan schrieb das Libretto des Musiktheaters „The damned and the saved“, der ersten großen Produktion des „Mannheimer Sommers“, der sich in seiner 9. Ausgabe von 16. bis 26. Juni dem Thema Nachhaltigkeit widmet.
- Veranstaltungen: Mit einer Art Umwelt-Demos beginnt das Festival an Fronleichnam um 18 Uhr. Um 18.30 Uhr ist die Eröffnung am Goetheplatz, um 19 Uhr spricht Amitav Gosh, um 20 Uhr folgt „The Damned and the Saved“, um 22 Uhr das Konzert mit Voyage dans la lune. Es folgen bis 26.6. rund 60 Theater-, Opern-, Konzert- und Diskursveranstaltungen.
Über Mahnen hinaus
Nach Ansicht von Dvorák nützt es allerdings nicht, einfach nur zu erkennen. „Viel zu spät dämmert uns, dass es ums eigene Überleben geht! Das schlägt sich auch in den Künsten nieder. Aber was wäre die Rolle der Kunst?“, fragt er, geht über das Mahnen und Aufrütteln hinaus und will nicht weniger als „die Fähigkeit zum utopischen Denken“ trainieren?
Deswegen kommen einige Punkte des Festivals auch ganz schön science-fiction-artig daher. Dazu gehören die Live-Animation „Post Paradise“, der Tanzabend „Black Marrow“ oder das Gastspiel der Space-Oper „Cosmic Drama“, bei dem Astronauten zwischen riesigen schwebenden Felsbrocken agieren. Es gibt „Maschinen-Monologe“, das Schauspiel „2027 - Die Zeit, die bleibt“ und eine Variation auf Mozarts „Idomeneo“: Mit „Neo Dome I“, einem Anagramm von Idomeneo, wollen Ariel Efraim Ashbel und seine Freunde „in die Tiefenströmungen“ von Mozarts Opera seria eindringen.
Tatsächlich aber kommen trotz aller Weltuntergangsszenarien auch der Humor und die Familie nicht zu kurz. So findet gleich am ersten Wochenende ein Familientag statt und eine Woche später ein Orchesterkaraoke, bei dem das Publikum die Chance bekommt, auf der großen Bühne, begleitet von einem großen Orchester und dem (Bürger)-Alphabet-Chor, aktuelle Hits und Klassiker der Rock- und Popgeschichte zu singen - nach dem Motto: Jeder kann ein Star sein für einen Moment!
Zum (Fast)-Abschluss wird das Schwetzinger „Schloss in Flammen“ gesetzt. Nicht wirklich natürlich. Es geht um ein Feuerwerk und den beliebten Open-Air-Klassiker, bei dem Generalmusikdirektor Alexander Soddy, das Nationaltheaterorchester sowie Solistinnen und Solisten des Ensembles mitwirken.
Pat To Yan ist zwar kein Opernfan, aber Opernlibrettist. Bisweilen, sagt er, geht er schon in die Oper und findet das dann auch schön. Der Mannheimer Sommer bietet vieles für viele. Er schließt in seinem Facettenreichtum an die Programmatik der Internationalen Schillertage an und sucht eindeutig nach neuem Publikum für die klassische Kultur - auch nach Leuten wie Pat To Yan.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-wie-sich-das-nationaltheater-dem-thema-nachhaltigkeit-widmet-_arid,1962329.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/dossiers_dossier,-_dossierid,30.html