Mannheim. Also das ist nun sicherlich nicht der Abend, der im besten Sinne inklusiv ist, der Abend, der die Gesellschaft - oder besser die vielen existierenden Parallelgesellschaften - in irgendeiner Weise anlockt und am Lagerfeuer, dem Theaterauditorium, versammelt, der Abend, wie ihn auch Kulturpolitiker mitunter gern als identitätsstiftend oder gar als den Kitt der Gesellschaft bezeichnen.
Nein. Sidney Corbetts Kammeroper ist exklusiv und eine wunderschön-grässliche Gegenwelt zu all dem, was da draußen auf unseren Straßen kreucht und fleucht, die Bestie Mensch, sie ist ein Raum feinster Poesie der Einsamkeit, die aus dem Nichts kommt und in luftiger Freiheit Gedankenwelten entstehen lässt, sie scheint keinen anderen Sinn zu haben als den: zu sein, da zu sein. „Keine Stille außer der des Windes“, so der Titel, deutet schon oppositionell an: Mit Logik kommt man dem Werk nicht bei. Zu sehr sind die Fragmente des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa von inneren Widersprüchen, ja, vom Absurden geprägt, zu sehr sind sie in ihrer Anwendbarkeit der Welt fremd.
Corbetts Kammeroper
- Der Komponist: Sidney Corbett wurde 1960 in Chicago geboren, studierte Komposition und Philosophie, promovierte 1989 in Yale und war 1985 bis 1988 in der Kompositionsklasse György Ligetis in Hamburg. Seit 2006 ist er Professor für Komposition an der Musikhochschule Mannheim. In seiner mitunter sehr spirituellen und immer wieder auch sehnsüchtigen Musik setzt er der (Post)-Moderne einen Stil der Konzentration gegenüber, bei dem jeder Ton und Klang zählen.
- Das Werk: Die Kammeroper „Keine Stille außer des des Windes“ wurde bereits 2007 in Bremen uraufgeführt. Grundlage des Werks ist eine Verbindung einiger Texte des Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935). Die in Berlin lebende brasilianische Autorin Simone Homem de Mello hat die Kompilation, ausgehend von Pessoas „Buch der Unruhe“, zur introvertierten, weithin melancholischen Textfläche geflochten, deren Inhalte auf sechs Sängerinnen und Sänger sowie einen Schauspieler übertragen sind.
- Die Termine: 9., 19., 20. März sowie 1. April (20-21.30 Uhr).
- Info/Karten: 0621/1680 150.
Und doch sind gerade auch solche Abende Abende der Menschlichkeit, die in Zeiten kriegerischer und katastrophischer Szenarien abseits alles Profanen unsere Seelen heilen. Das Team um die polnische Regisseurin Pia Partum (Magdalena Maciejewska, Wojciech Dziedzic, Agnieszka Dmochowska-Stawiec), Preisträgerin beim Internationalen Wettbewerb für Regiekonzepte am NTM, setzt das einfach an den Strand von Lissabon. Ein Ess- und Trinkgelage im platonischen Sinne. Muscheln, Austern, Brot, Wein, Wasser und sogar Tequila mit Salz und Zitrone werden vertilgt, man diskutiert über Gott und eher nicht über die Welt, dafür über das Sein in ihr, über die Unendlichkeit, die Liebe oder den Sinn einer Zahl („Was ist 34 in Wirklichkeit?“).
Fragmentarischer Charakter
Im Hintergrund lässt die impressionistische Ahnung des Meeres (Video: Franek Wardynski) mediterranes Feeling entstehen. Ein Hauch zerbrechliche Fin-de-siècle-Stimmung. Einmal lässt sogar ein vorbeifahrendes Kreuzfahrtschiff banale Luxusträume entstehen. Und hinter der Projektionsfläche erzählt die auf zwölf Musizierende verteilte Musik unter der präzisen Leitung Elias Corrinths vom Zweifeln. Gleich der erste Satz stellt quasi alles zwischen Gottes-Existenz und -Inexistenz in Frage. Über dem leisen Rattern und Klingeln einer alten Schreibmaschine ertönt die „Stimme des Buches“, der Stefan Sevenich (für den erkrankten Thomas Jesatko singend) vom Notenpult aus erstaunlich sichere, tiefe und warme Baritontöne schenkt.

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Corbett greift in seiner feinen, leisen und immer sparsam instrumentierten Musik den fragmentarischen Charakter des Librettos auf, das selten dialogisch wird und die Protagonisten aufeinander eingehen lässt, sondern sich eher als Gedanken- oder Assoziationsstrom von allen getragen in eine Richtung bewegt.
Schnöde Wortfolgen wie „Parlamente, Politik, Haushaltsberichte, verfälschte Bilanzen!“ des (sprechenden) Hilfsbuchhalters bekommen neue Bezugspunkte: „Ein Haushaltsbericht ist so natürlich wie ein Baum und ein Parlament so schön wie ein Schmetterling.“ Holzblöcke klacken, Kuhglocken gongen und ein Kontrabass stottert dazu einen Tritonus - Corbett setzt mit immer wieder neuen Kopplungen der Instrumente neue, überraschende Farben und Aussagen, verdichtet durch Schichtung und Stauchung auch die Ereignisse und das Tempo, wodurch gerade gegen Ende an Tuttistellen mit vollem Streichquintett mitunter fast ein vokalpolyphoner Ausdruck entsteht. Die Sänger machen das exzellent: Unter Haesu Kim (Beobachter), Martiniana Antonie (Reisende), Rebecca Blanz (Braut), Maria Polanska (Zwitter) sowie Sprecher Michael Ransburg sticht da noch der reine Countertenor Tobias Hechlers hervor.
Eine Gewissheit: Das Ich existiert
So mäandert Corbett mit vielen in der Luft stehenden Fragezeichen - mal mehr, mal weniger expressiv - durch die Zeit, die immerhin 90 Minuten beträgt. Man kann - bei aller Bewunderung für das Zarte dieses unter dem Strich melancholischen Abends - eine dramaturgische Entwicklung schon auch vermissen. Eine eineinhalbstündige poetische Textfläche mit wenigen Ankerplätzen zu semantischen Klärungsprozessen ist kein einfacher Theaterstoff.
Sidney Corbett zweifle „eher am Zustand der Gesellschaft als am Sinn, Kunst zu produzieren“, sagte der in Schwetzingen lebende Mannheimer Professor vergangenes Jahr im Interview mit der Redaktion. Und: „Kunst, insbesondere performative Kunst vor Publikum, hat eine Nieren-Funktion, sie ist ein gesellschaftliches Entgiftungsorgan.“ Übertragen auf diesen Abend könnte das bedeuten: Oper als Entgiftung von der schnöden Wirklichkeit, als Ort der Fantasie, Poesie und fern aller Logik und Wissenschaft.
Der dichterische Stolz Portugals, Pessoa, gilt ja durchaus auch als jemand, der deutlich mehr als nur esoterisch angehaucht und dessen Denken konservativ bis hin zum Antidemokratischen gewesen sein soll. In seiner immer um (s)ein Ich kreisenden Reflexions- und Meditationsprosa entsteht zwar so etwas wie ein multipler Kosmos an Verästelungen und Zerbrechungen, andererseits kennt sie aber auch nur eine Weltgewissheit: Das Ich existiert.
Corbett setzt das fabelhaft in Klang und Rhythmus. Dass sein Denken dabei selbst ebenfalls immer um einen wie auch immer gearteten spirituellen Raum kreist, macht diesen Abend rund - und exklusiv. Dieser exklusive Kreis aber ist im Studio Werkhaus vom Ausflug in die Freiheit der Gedanken begeistert.
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