Mannheim. Bei Comedy-Shows erlebt man das selten: Ein Publikum, das zu mindestens 80 Prozent aus Frauen besteht. Und das extrem lautstark eine Stimmung verbreitet, die noch mehr Solidarität als Begeisterung ausdrückt. Dazu muss Ines Anioli im Mannheimer Capitol nur ein schickes Video mit den immer noch üblichen Anforderungen an Optik und Verhalten von Frauen laufen lassen, das mit Hollywoods großem MeToo-Fall Harvey Weinstein endet, und mit einer mitreißenden Tanzeinlage die Bühne stürmen – so klingt also Empowerment, Selbstermächtigung der Frau. Eindrucksvoll.
Warum sich das mehr wie eine Aktivistinnen-Tagung und weniger wie eine Show anfühlt, das wissen im Saal alle bis ins kleinste Detail. 2021 gab es auf Twitter und Instagram kaum ein größeres Thema hierzulande. Deshalb ist es pikant, dass die Duisburgerin zehn Tage nach Luke Mockridges Auftritten in der SAP Arena in Mannheim spielt, wo sie in ihrer Zeit beim Radiosender RPR1 auch kurz gelebt hat.
Offen über Verletzungen sprechen
Und nein, es wird nicht zum Rückspiel in einer deutschen Ausgabe der im US-Gerichts-TV detailversessen ausgetragenen Schlammschlacht zwischen den Hollywood-Größen Amber Heard und Johnny Depp. Aber klar, bei den beiden deutschen Comedy-Stars spielt die toxische Beziehung, die sie miteinander gehabt haben sollen, mindestens eine Nebenrolle im Programm. Thematisieren können sie das nur über Bande, Aniolis Missbrauchsvorwürfe führten am Ende nicht zu staatsanwaltlichen Ermittlungen. Beide erwähnen auf der Bühne also keine Namen, juristisch würde dann wohl scharf geschossen.
Verurteilt wurden beide längst von sich gegenseitig massiv bekriegenden Strafgerichtshöfen in den sozialen Medien – ein Alptraum, was beide offen thematisieren. Denn ignorieren können sie das Thema nicht. Mockridge trällerte über seine Selbstzweifel den Refrain „Wollt ihr den Typ mit dem Sexskandal noch sehen?“, bei Anioli zieht es sich durch weite Teile des Programms.
Beide sprechen offen über ihre Verletzungen und Ängste in Folge der gigantischen Shitstorms, die auch das Karriereende hätten bedeuten können. Anioli gelingt es souveräner und paradoxerweise ernsthafter, ihre Traumata in Steilvorlagen für Comedy-Nummern zu verwandeln.
Weniger Porno-Gags
Wenn sie sagt „Heute bin ich Mitte dreißig, traumatisiert, und beginne jeden Satz mit ,Meine Therapeutin hat gesagt ...’“, leitet das gekonnt über zur Frage, warum Männer weniger schnell für verrückt gehalten werden als Frauen. Oder Serienmörder wie Ted Bundy in Medien, Filmen und Serien verklärt werden. Oder zum Thema Hexenjagd, mit denen man MeToo-Kampagnen gegen Männer nicht vergleichen könne – da gebe es nämlich keine Folter oder Todesurteile, höchstens einen Schandpfahl, wie Anioli betont. So funktioniert feministische Comedy.
Ihr neues Programm „Goddess“ wirkt wesentlich reifer als der Vorgänger „Cumedy“. Das setzte in Madonna-Tradition und oft mit der Detailversessenheit von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ auf pornografische Inhalte, bei denen mitunter auch Ingo Appelt oder Oliver Polak erröten würden. Den Grad der Explizitheit bremst Anioli inzwischen ein, bleibt aber trotzdem mehr als deutlich. Nur haben in „Goddess“ sogar die Pointen unter der Gürtellinie eine Funktion. Die Botschaft am Ende einer bewegenden Stellungnahme anstelle der Zugabe: Eine Göttin zu sein, habe „schon lange nichts mehr mit Perfektion zu tun, mehr mit Akzeptanz für sich und andere“.
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