Mannheim. Man könnte, wollte man ein bisschen böse sein, anhand dieser einen Kaffeetasse die Relevanz zeitgenössischer Musik diskutieren. Jede und jeder würde wohl sagen: Ja, die Kaffeetasse ist ein Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs, sie hat gesellschaftliche Relevanz. Aber wer würde dasselbe schon der Neuen Musik zuschreiben, deren Szene weitgehend unter sich bleibt, die sich weitgehend selbst bestätigt und deren Schöpfer auf ihrem Weg nach draußen, zu den Menschen, absolut kompromisslos agieren. Die Suche nach Neuem und dem befriedigten Ego scheinen hier wichtiger als das Treffen eines Geschmacks. Die Attitude lautet: l’artiste - c’est moi! Im Grunde ist die Neue Musik die hochsubventionierte Antarktis, wenn die milliardenschwere Popmusik die Arktis ist, eine Antarktis jedoch, die so wichtig ist wie die Subversion des revolutionären Philosophen, der Zustände ändern will.
Die nächsten Konzerte
- 2. Konzert: Klavierabend Florian Hölscher am 31. März, 20 Uhr, im Florian-Waldeck-Saal (REM). Erinnerungsspuren. Zyklus für Klavier von Alberto Posadas.
- 3. Konzert: Streichtrios mit dem TrioCoriolis am 21. April, 21.30 Uhr, im Zeitraumexit. Werke von Iris ter Schiphorst, Wolfgang von Schweinitz und Klaus-Peter Werani (UA).
- 4. Konzert: Im Rahmen der 2. Biennale für Neue Musik spielen das Ensemble Risonanze Erranti und Peter Tilling am 5. Mai, 20 Uhr, in der Kulturkirche Epiphanias. Werke von Augustin Braud (UA, Auftragswerk der GNM), Jan Müller-Wieland (UA), Peter Tilling (UA) und Hans Abrahamsen.
- Sonderkonzert: SWR Jetzt Musik mit dem Ensemble Recherche am 16. Juni, 20 Uhr, in der Kulturkirche Epiphanias.
- Info: gnm-mannheim.de
Aber zurück zur Kaffeetasse. Sie erklingt in diesem Konzert am Ende von Helena Tulves „Sool“ (Salz) für Mezzosopran und Schlagzeuger. Ziemlich genau 50 Sekunden klöppelt einer der Percussions de Strasbourg auf ihr herum, penetrant auf einem schrillen hohen Ton zwischen viergestrichenem es und f, ohrenbetäubend und schmerzhaft, während Viktorija Pakalniece auf einem entspannten b resigniert die letzten (estnischen)Worte lamentiert: „Das Salz ist so alt / Wir sind so viele.“ Wenn Musik so physisch wird, wenn sie im doppelten Wortsinn unter die Haut und an die Grenzen des Erträglichen geht, ist sie - Kaffeetasse hin oder her - längst von Relevanz, zeigt sie uns doch nicht nur Grenzen auf: Sie hat in diesem Moment Bedeutung fürs Individuum, das Teil der sozialen Struktur ist, der Gesellschaft, und damit Einfluss auf deren Prozesse ausübt.
Virtuose Wunder
Tulves Werk von 2011 mit dem Ready-made, der Tasse, ist der bravouröse Abschluss dieses Abends der Gesellschaft für Neue Musik in der Epiphaniaskirche in Mannheim-Feudenheim. Der Abend mit vier Uraufführungen davor zeigt nicht nur die Relevanzthematik auf. Er führt eindrücklich vor Augen, dass das vielleicht archaischste Instrumentarium, geschlagene Objekte, Percussions, eine rührende Beseeltheit erzeugen können. Das mag vielleicht in Gundega Smites „Four Night Songs“ am stärksten zum Ausdruck kommen, weil sich dort mit vollem Instrumentarium die virtuosen Wunder des Percussionklangs mit denen der Stimme Pakalnieces zu einem Rausch vereinen, bei dem es nur ein Bedauern gibt: dass (wieder einmal) Gedichte genutzt werden, von denen im Grunde kaum etwas zu verstehen ist, was unter dem Strich auf eine Respektlosigkeit gegenüber Federico Garcia Lorca, Euripides, Knut Skujenieks und Paul Eluard zurückzuführen ist. Es wirbelt, es pocht und drängt. Die Klänge sind dicht und folgen einer freien Klangrede, die einen stets überrascht und nie langweilt. Ein großartiges Stück zeitgenössischer Musik dieser interessanten Komponistin, die aus dem Vollen schöpft.
Wesentlich reduzierter und konzentrierter sind die Arbeiten von zwei der drei Uraufführungskomponisten. „Spicules“ für vier Marimbas von Vykintas Baltakas ist schon in sich eine Art Etüde, die sich aus minimalistischen Spurenelementen heraus entwickelt und langsam zu etwas großem Organischem wird. Um kristallines Material geht es hier, hart und zerbrechlich, und so ist die Wahl der Marimbas auch die richtige. Knöchern und trocken klingt das Werk, dessen Klang nur selten etwas Luxuriöses und Opulentes erlangt und weitgehend wie unter der Lupe betrachtet bleibt.
Welt- und Rockmusik
In der Reduktion übt sich auch Mannheims Kompositionsprofessor Sidney Corbett. Sein „Unceasing Fabric of the Mind“ nutzt fast nur Material „ohne spezifische Tonhöhe“, im Wesentlichen Holzblöcke, die in ihrer strukturellen und rhythmischen Ordnung Themen, Sequenzen und melodieartige Fragmente entstehen lassen, die auch weltmusikalische Assoziationen bis hin zum Rock beinhalten, einmal meint man gar Deep Purples „Smoke on the water“ zitiert zu hören (g-b-c). Thomas Hummels „Vermächtnis“ zu Beginn des Konzerts fällt da etwas ab. Die Einbindung von Elektronik führt zwar zu tollen Klangsphären. Auch gibt es hier einige Schockelemente. Doch unter dem Strich weiß das Werk nicht so recht, wohin und protzt ein bisschen mit Klangvielfalt. Alles in allem ein toller Auftakt in die Saison Neuer Musik, die ihre Relevanz - wenngleich nur unter dem Mikroskop sichtbar - vor stattlicher Besucherzahl beweist.
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