Das Gespräch

Wie ein Horror-Trip des Mannheimers Mutlu Acar zum Oscar-Kandidaten "Nawalny" beitrug

Die Dokumentation über den russischen Oppositionsführer liegt aussrichtsreich im Oscar-Rennen - auch dank des kleinen, aber entscheidenden Beitrags des Motiv-Aufnahmeleiters aus der Quadratestadt auf Jason Stathams Spuren

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Motiv-Aufnahmeleiter Mutlu Acar erinnert sich im Interview auch an diese Couch im Jungbusch-Café „Schön klar“, die bei den Dreharbeiten für den noch unveröffentlichten Film „Rohbau“ genutzt wurde. © Thomas Tröster

Wenn in der Nacht zum Montag in Los Angeles die Oscars verliehen werden, kann der Glanz einer vergoldeten Statuette bis nach Mannheim strahlen: Angesichts der Weltlage ist der brisante Dokumentarfilm „Nawalny“ über den Giftanschlag auf den russischen Oppositionsführer Favorit in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“. Und der gebürtige Ludwigshafener Mutlu Acar hat bei der Entstehung der zum Großteil in Baden-Württemberg entstandenen US-Produktion des kanadischen Regisseurs Daniel Roher einen kleinen, aber entscheidenden Anteil.

Allerdings nicht in seiner eigentlichen Funktion als Motiv-Aufnahmeleiter, der das Zusammenspiel von Film-Crew, Drehort, Behörden und Nachbarschaft regelt. Dazu befähigen den Wahl-Mannheimer seine enorm positive Ausstrahlung, das psychologische Geschick und die Kenntnisse aus seinem Brotberuf in der Immobilienbranche. Für den Film begeisterte ihn 2016 Danielle Koch, Chefin der Mannheimer Komparsen-Agentur Sensation Booking, als Acar sich in Elternzeit um seine Zwillinge kümmern wollte. Sein Talent als Drehort-Scout und „Feel-Good-Manager“ für Film-Sets entdeckten im selben Jahr Fabian Vetter und Sebastian Ebert aus der Produktion „Fremde Tochter“.

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Wenn der 44-jährige Quereinsteiger von seiner Nawalny-Mission erzählt, klingt es filmreif: Eigentlich will der Familienmensch Mitte Januar 2021 den fünften Geburtstag seiner Kinder feiern. Dann kommt ein Anruf. In der Leitung: der renommierte Film-Tonmeister Marcus Vetter. Er kennt den Location-Manager von zwei Kinoproduktionen in Mannheim („Borga“, „Und morgen die ganze Welt“) und bittet inständig: Acar soll in den Schwarzwald kommen. „Jetzt!“ Vetter sei bei einer „extrem wichtigen Produktion“, man brauche jemanden, der absolut integer sei - „und da bist du mir als Erster eingefallen“, erinnert sich Acar im Gespräch mit dieser Redaktion. Auch das läuft an einem Mannheimer Drehort, auf einem prachtvollen Sofa im Café „Schön klar“.

Wie im Statham-Film „Transporter“

Er versucht zu erklären, dass der Geburtstag seiner Kinder Vorrang habe. Aber Vetter insistiert: „Es ist extrem wichtig, es ist weltpolitisch.“ Da ahnt Acar, um was es geht. Denn der sonst eher zurückhaltende Sound-Mixer hat Tage zuvor auf Facebook gepostet: „Ich habe die unglaublichste Aufnahme meines Lebens gemacht.“ Fast zeitgleich geht durch die Weltpresse, dass Telefongespräche Nawalnys mit seinen Attentätern aufgezeichnet wurden. „Da konnte ich eins und eins zusammenzählen, habe die Kinder noch ins Bett gebracht und bin am selben Abend nach Freiburg gefahren.“

Dort gibt es ein großes Hallo vom Team, das Nawalny insgesamt fast zwei Monate lang für die - streng geheime - Produktion begleitet hat: „Da ist ja unser Transporter!“ Bekanntlich ist das auch ein Filmtitel, in der gleichnamigen Reihe spielt Action-Star Jason Statham einen Kurierfahrer für extrem gefährliche Missionen. „Da wurde mir klar: Okay, das scheint doch etwas Heikleres zu sein.“ Seine Aufgabe: Die in Freiburg entstandenen Aufnahmen des Tages vom zentralen Interview mit Nawalny in ein Studio nach Tübingen zu fahren, wo sie nachbearbeitet und kopiert werden.

Für den Oscar nominiert: Die Doku über den heute inhaftierten Alexej Nawalny. © dpa/DCM CNN Inc.

Das Riskante daran: „Damals konnte ja niemand wissen, ob jemand noch versuchen würde, das Attentat auf Nawalny zu vollenden. Oder zumindest zu unterbinden, dass seine Aufnahmen im Stil eines Kronzeugen an die Öffentlichkeit gelangen“, erinnert sich Acar. Das ist aber noch nicht alles: In Mannheim und Ludwigshafen ist man verkehrstechnisch gelernter Flachländler, das kurvige Auf und Ab im Schwarzwald unter anderem bei einem nächtlichen Schneesturm und minus zehn Grad ist für den Kurpfälzer ein Horror-Trip.

Dazu sind wegen der Ausgangssperre im Lockdown die Straßen wie leer gefegt, der KGB sitzt zumindest gefühlt im Nacken: „Mir hätte ja keiner helfen können, wenn ich einen Abhang herunter gerutscht wäre. Ich habe ein Foto auf Social Media gepostet, damit die Leute wissen, wo ich bin. Da hatte ich zum ersten Mal seit Kindestagen wirklich Angst.“

Als er anfängt, mit seiner Frau zu telefonieren, wird es besser. Das Risiko wird ihm aber wieder voll bewusst, als ihn der Studiochef nachts um zwei mit den Worten begrüßt: „Mutlu, das ist voll verrückt, was wir hier machen. Ich hab’s selbst meinen Mitarbeitern nicht gesagt.“ Das geht drei Tage lang so.

Das Risiko hat sich aber gelohnt. Der Film „Nawalny“ macht nicht nur Schlagzeilen. Er feiert im Januar 2022 erfolgreich Premiere beim Sundance Film Festival, in Deutschland beim DOK.fest München. Die Dokumentation hat schon den BAFTA (British Academy Film Award) gewonnen und liegt aussichtsreich im Oscar-Rennen - und viele Filmschaffende aus Baden-Württemberg sind mit im Boot. „Das ist ein surrealer Traum, den Marcus Vetter ermöglicht hat. Etwas ganz Besonderes.“

Deshalb hat Mutlu Acar überhaupt nur das Bedürfnis, über seinen "Transporter"-Einsatz zu sprechen: Ihn beschäftigt, dass in dem nachvollziehbaren Trubel um die historischen neun Oscar-Nominierungen für „Im Westen nichts Neues“ eins völlig untergeht: „Auch wenn ,Nawalny’ eine amerikanische Produktion ist, sollte es doch bemerkenswert sein, dass er in Deutschland zum großen Teil mit deutschen Filmschaffenden gedreht wurde. Die meisten wissen das gar nicht. Das ist doch schade.“

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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