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Warum wir dringend ein soziales Pflichtjahr brauchen

Warum die Republik es zur Stärkung von Gemeinsinn und Demokratie benötigt, zeigt allein der Umgang mit dem Vorschlag von Bundespräsident Steinmeier. Aber auch die Dienstleistenden können davon massiv profitieren

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Einer der letzten Zivildienstleistenden begleitet auf diesem Archivfoto vom Mai 2011 eine alte Dame in München. © Arne Meyer/dpa

Was hat der Bundespräsident für einen Gegenwind bekommen, als er Anfang Juni eine Debatte über die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes vorschlug! Dabei gehören „Anregungen und Anstöße“ zur aktuellen Jobbeschreibung von Frank-Walter Steinmeier. Und wer will bestreiten, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und das Demokratieverständnis in der Republik die vom SPD-Politiker durch einen Pflichtdienst erhoffte Stärkung gut gebrauchen könnte? Silvester lässt grüßen. Eine Pflicht, die übrigens nicht nur für die jüngere Generation gelten soll, wie Steinmeier später ergänzte.

In welchem Ton der Vorschlag teilweise abgebürstet wurde, unterstreicht nur den Handlungsbedarf in Sachen Gemeinsinn. Offensichtlich passt der unterschwellige Kennedy-Sound („Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt“) nicht in eine Zeit, in der ausgeprägte Individualistinnen und Individualisten meinen, automatisch recht zu haben und jede abweichende Meinung für eine Form von Hochverrat halten zu müssen. Vielleicht darf man trotzdem mit etwas Abstand noch einmal über den Vorschlag nachdenken, ein Freiwilliges soziales Jahr (FSJ) zur Pflicht zu machen. Auch das ist Bürgerpflicht - angesichts zunehmender Zentrifugalkräfte in der Gesellschaft, Wegbröckeln von Ehrenamt und Interesse an einfachen Tätigkeiten.

Tätigkeitsfelder breit streuen

Zuallererst müssen bei dem Thema Zwangscharakter und gesellschaftliche Notwendigkeit mit dem individuellen Nutzen ins Verhältnis gesetzt werden. Nach 20 Monaten Zivildienst auf einer neurologischen Rollstuhlfahrerstation in Nordhessen habe ich als gelerntes Landei zu Studienbeginn in Heidelberg sehr gestaunt. Darüber, welche Möglichkeiten es noch gegeben hätte. Ein Germanistik-Kommilitone hat seine Wehrpflicht zum Beispiel damit abgegolten, in dem er am Kulturprogramm des New Yorker Goethe-Instituts mitgearbeitet hat. Natürlich: Solche Traum-Jobs lagen damals nicht auf der Straße, man war bei Zivi-Stellen meist auf Mundpropaganda angewiesen.

Auf den Leib und für die künftige Karriere maßgeschneiderte Angebote würden nicht die Regel sein. Aber so wird das Prinzip klar: Wenn alle dazu fähigen Frauen und Männer etwas tun müssen, dann sollte man auch die Tätigkeitsfelder breit denken - also über die gängigen Felder im sozialen Bereich hinaus. Damit jede und jeder etwas findet, was den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Im Idealfall kann (besser: sollte) so ein Pflichtjahr Spaß machen und Perspektiven aufzeigen.

Wobei man das FSJ ja schon jetzt in der Kultur, wo jede engagierte Hand nötig ist, in der Entwicklungshilfe, in Jugendzentren oder im Umweltschutz investieren kann. Genau das ist der Weg: Statt wieder mal böse Boomer, die ihre Erfahrungen als Zivi ganz positiv fanden, rhetorisch abzubürsten, müsste sich speziell die aktive Fridays-for-Future-Jugend (FFF) oder die Last Generation eigentlich massiv für ein Pflichtjahr einsetzen. Um die eigene Überzeugung zum Kurzzeitberuf bei FFF, Umwelt- oder Klimaschutzverbänden machen zu können. Überspitzt gesagt: Wenn man die Klimaziele noch erreichen will, müsste eigentlich jetzt jeder Schulabgänger eine Gewissensprüfung ablegen, warum sie oder er nicht Heizungsbauer mit Schwerpunkt Wärmepumpen, Solarteurin oder handwerklicher Energieberater werden möchte. Wie sonst soll der enorme Bedarf an energieeffizienten Wohnraum gedeckt werden?

Pflichtjahr im Handwerk?

Warum kein Pflichtjahr generell im Handwerk? Aus Überzeugung oder zur Orientierung - egal. Man tut auch etwas Gutes, wenn man lokalen Traditionsbetrieben wie Bäckern oder Metzgern ein Jahr lang an der Theke hilft. Weil auch diese Kräfte fehlen, geben zurzeit massenhaft kleine Betriebe auf. Und für junge Leute ohne Schulabschluss oder Langzeitarbeitslose ergäben sich Chancen, zu zeigen, was sie können.

Oder man macht das Hobby zur Pflicht: Allen voran bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem Technischen Hilfswerk, Rettungsdiensten … auch als Jugendtrainer/in im Sportverein inklusive Verbandsschulungen. Man muss gar nicht groß ausführen, auf wie vielen Ebenen das nachhaltig Wirkung entfalten könnte. Einer der besten Nebeneffekte: Man lernt im jeweiligen Tätigkeitsfeld oft jede Menge Berufe im Alltag kennen, was Illusionen zerstören, vor allem aber als (Neu-)Orientierung dienen kann.

Weniger als ein Jahr sollte es nicht sein. Die ersten drei Monate macht fast jeder/fast dem erfahrenen Personal mehr Arbeit, als er hilft. Danach stellt sich meistens Routine ein - eine exzellente Selbsterfahrung. Und gut fürs Kollektiv, denn früher hatten in der Pflege oft nur Zivis Zeit fürs Zwischenmenschliche. Natürlich käme der Einsatz von Pflichtdienstlern auch dem in der Corona-Zeit noch viel stärker strapazierten Pflegepersonal zugute. Auch, weil die Eindrücke im Pflichtjahr potenziellen Nachwuchskräften zeigt, was für ein toller, befriedigender und vielseitiger Beruf sich da bietet. In dem man im Prinzip nie etwas tut, das nicht sinnvoll ist.

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Das erkennt man übrigens nicht am ersten Tag. Ich war eher geschockt - von schwärenden Druckgeschwüren, üblen Gerüchen, vor allem von den menschlichen Schicksalen hinter furchtbaren Diagnosen. Das gehört zum Sozialen Lernen, ein Konzept aus den Zivi-Lehrgängen, das zunächst wie eine hohle Rechtfertigung dafür klang, mir 20 Monate meines Lebens, Freiheit und Selbstbestimmung zu nehmen (fünf mehr als bei der Bundeswehr, nicht zu vergessen). Aber es war nicht falsch: Man lernt, mit menschlichen Schicksalen umzugehen. Der unterschiedliche Umgang der Patienten mit ihrem Schicksal ist so lehrreich, wie es antikes Theater gern sein wollte - in Bezug auf menschliche Größe, Kraft und Grenzen von Glaube, Liebe, Hoffnung - oder familiärer Bindung.

Erwerb von Kompetenzen

Ein krude klingendes Lernziel aus dem Konzeptpapier, sich als Stärkerer dem Schwächeren zu fügen, war für mich als unter anderem im gewaltaffinen Rockermilieu „sozialisierten“ Nachtschwärmer oft hilfreich. Vor allem, als mir eine Patientin mit frisch diagnostiziertem Vaginalpilz boshaft kichernd ins Gesicht urinierte, während ich ihr die Hose herunterzog, nachdem ich sie gerade auf die Toilette gewuchtet hatte. Lektionen fürs Leben... wie die erste vergebliche Reanimation, ein Suizidsprung aus dem siebten Stock oder eigentlich jeder Nachtdienst. Deutlich prägender als Schule oder in meinem Fall das Elternhaus. Einblicke in andere Lebensrealiäten müssen nicht gleich so drastisch ausfallen, um bereichernd zu wirken. Angehörigen fast aller Berufe täten sie aber gut. Man denke an Lehrer, Bankerinnen, Journalisten, Juristinnen und, und, und ....

Zu ungefähr diesem Ergebnis kam auch die Studie des Bundesfamilienministeriums „„Zivildienst als Sozialisationsinstanz für junge Männer“nach dem Auslaufen des Ersatzdienstes 2011: „Der Zivildienst hat für die Dienstleistenden einen Kompetenzerwerb in allen Kompetenzbereichen ermöglicht, insbesondere jedoch in Bezug auf personale und soziale Kompetenzen.“ Diese besondere Möglichkeit sollte stärker öffentlich vermittelt werden, hieß es. Dieser Text soll dazu dienen.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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