Schwetzinger Festspiele - Johannes Kalitzkes Oper „Kapitän Nemos Bibliothek“ eröffnet das Festival mit einer Überfülle an Klang, Bildern und Eindrücken

Warum Johannes Kalitzkes Oper zur Festspieleröffnung in Schwetzingen überfordert

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Am Ende kommt das große Feuer (v.l.): Johannes (Johanna Zimmer) und ICH (Iurii Iushkevich) haben es ausgelöst und erleben es (fast) hautnah mit. © SWR/Elmar Witt

Schwetzingen. Im Rokokotheater geht schon wieder die Welt unter. Nicht ganz. Aber: Ein Haus brennt. Ein Schiff sinkt. Eine Hoffnung stirbt. Und was den Videohintergrund der Bühne betrifft: unerfreulich. Auch ansonsten gibt es hier vieles, was siecht, krepiert, hadert, weint, flutet, jault, quietscht, ja, sogar eine Katze spielt in den letzten Minuten eine Rolle: Es ist - freilich nach einer langen, langen Seelenwanderung - die verstorbene Stieftochter Eva-Lisa. Wie bitte? Ja: Dieser Abend ist ein großes Rudern im See der Möglichkeiten eines Lebens und Träumens, der Möglichkeiten eines Musiktheaters. Herausgekommen ist dabei „Kapitän Nemos Bibliothek“. Und vielleicht passt es da ja, dass am Ende, wenn der Komponist sich schon seit mehr als 90 Minuten kleptomanisch am bunten Kiosk aktuell verfügbaren Klangmaterials vergriffen hat, auch noch eine trockene Strohgeige zum Stehklang eines Samplers setzt: Eine sehnsüchtige kleine Sexte beendet das Eröffnungsspektakel der Schwetzinger Festspiele.

Nach Materialschlacht und Applausrausch dürfen wir tatsächlich Sehnsucht verspüren: nach Konzentration, nach Luft, nach Bedeutung. Bedeutung im Sinne von: Dinge sagen und Dinge wirken lassen, ihnen Zeit und Raum zur Entfaltung geben. Denn das ist das Manko dieses Werks und Abends, bei dem man fast meint, Johannes Kalitzke, Komponist und Dirigent der Produktion, wolle mit seiner Kammeroper die Leere zweier Coronajahre amortisieren. Es ist ein übervoller, überdichter, überbunter Klangstrom der Postmoderne, mit dem Kalitzke uns flutet. Alles gut gemacht. Aber einfach zu viel.

Johannes Kalitzke und sein Werk

  • Der Komponist: Johannes Kalitzke, geboren 1959, stammt aus Köln und hat dort studiert. Komponieren lernte er bei York Höller. Er begann am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier. Als Dirigent arbeitet Kalitzke mit vielen großen Orchestern zusammen. Als Opernkomponist hat er zuletzt 2016 „Pym“ (nach Edgar Allan Poe) am Theater Heidelberg uraufgeführt. Er lehrt am Salzburger Mozarteum.
  • Das Werk: „Kapitän Nemos Bibliothek“ basiert auf dem 1991 publizierten Buch von Per Olov Enquist. Das Libretto stammt von Julia Hochstenbach. Erzählt wird, wie in Schweden in den 1940er Jahren zwei Nachbarsjungen bei der Geburt vertauscht werden; die Entdeckung löst in beiden Familien später eine Verkettung von Verlust, Tragödie und Tod aus.
  • Der Termin: 2. Mai, 19 Uhr, danach im Juli bei den Bregenzer Festspielen.

Von Matthäuspassion zu „Tristan“

Dabei erzählt er mit Librettistin Julia Hochstenbach nach Per Olov Enquists Roman eine gute Geschichte, setzt in der Geschichte an und wirft den Blick nach Schweden, wo in den 1930ern zwei Säuglinge vertauscht wurden, was später ans Licht kommt. Kalitzke will mit seinem Werk beschreiben, wie die dann zurückgetauschten Jungen ihre Geborgenheit verlieren und sich in einen imaginären Raum bewegen, ins U-Boot aus Jules Vernes Roman, wo sich Nemos Bibliothek befindet, stellvertretend für das Wissen und die Fantasie der ganzen Menschheit. Geschickt werden wir auf eine Flucht aus der harten Realität, auf eine Odyssee der Fantasie, die diese beiden Jungs erleben. Ständig begegnen sie ihren eigenen Ichs als Kinder, was mit realistischen Puppen von Louise Nowitzki dargestellt wird. Die Puppen sind omnipräsent. Wie Schatten der Figuren.

Kalitzke schreckt dabei vor nichts zurück. Zu Beginn wird Bachs Matthäuspassion zitiert, später Wagners „Tristan“, und dazwischen ist mit E-Gitarre, Akkordeon und Schlagzeug (fast) alles möglich. Christoph Werner zeigt das in einem Einheits-U-Boot (Angela Baumgart), deren Öffnungen die jeweilige Video-Umgebung zeigen (Conny Klar). Dorf, Kirche, Unterwasserbilder, Natur, ein Hai, das brennende grüne Haus. Alles ist da. Alles ist Film. Alles ist auch hübsch gemacht - durch die ständig fahrenden, gestikulierenden und auf Dauer irgendwie auch ermüdenden Puppen, die stets etwas durch die sich überschlagenden Ereignisse überforderte Bühne und den Aktionismus schrammt der Abend visuell aber - böse ausgedrückt - nah an einem tollen Schultheaterprojekt vorbei. Denn auch die Bühnendarstellung bekommt hier keinen Raum zum Atmen, keinen Moment der Poesie, des Innehaltens, Wirkens und Ausstrahlens in die Gefühle des Zuschauers. „Nemo“ hängt auf der Bühne fest.

Schade ist das, weil die Voraussetzungen sehr gut und die Singenden bestens besetzt sind, Kalitzke zudem ein sehr guter Dirigent und das Ensemble Modern ohnehin eine superlative Kraft ist; die elf Musizierenden agieren messerscharf, wendig und immer klanglich überraschend. Auch Ich-Erzähler-Sänger Iurii Iushkevich, ein 23-jähriger Counter-Tenor aus Russland, singt das - freilich mit starkem Akzent - sehr souverän und tonschön, Johanna Zimmer als Gegenpart Johannes liefert exakt das Sopranmaterial, um aus dem Protagonisten-Duo ein harmonisches Gefüge entstehen zu lassen. Sängerisch am auffälligsten ist aber natürlich Rinnat Moriahs Eva-Lisa, die musikalisch anspruchsvollste Partie des Werks, die Moriah akrobatische Fähigkeiten in der Stimmstratosphäre abverlangt bis hinauf in die dreigestrichene Oktave - mit extrem erotischer Wirkung, was diese Figur auch braucht. Der Alt von Noa Frenkel (Josefina/Alfild) und Bassist Reuben Willcox (Sven/Pastor) komplettieren das gut aufgelegte Sängerensemble, das die schwierige und dichte Partitur gut und konzentriert umsetzt.

Vielleicht sollte man bei der Ereignisflut ja einfach dem Wort Johannes’ folgen: „Wenn ich alles gesammelt habe, und geordnet und katalogisiert, dann werde ich es verstehen. Vielleicht“, sagt er in Nemos Bibliothek. Oper erleben soll zwar keine Katalogisierung von Ereignissen sein - zumal die meisten von uns den Abend nur einmal erleben werden. Der Ansatz klingt aber durchaus innovativ.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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