Mannheim. Für manche Künstlerinnen und Künstler bietet das Capitol einfach das perfekte Ambiente. Vor allem die inzwischen vollkommen zeitlose Georgette Dee wirkt wie hineingeboren in das mondäne frühere Kino. Kein Wunder, dass sie regelmäßig zu Gast unter der Jugendstilkuppel ist. Die Berliner Diseuse verkörpert perfekt die mitunter überbordende Lebenslust, den Humor und die philosophische Abgründigkeit beim Tanz auf dem Vulkan der 20er Jahre – egal ob eine 19 oder die aktuelle 20 davor steht. Denn die aktuellen Zeitläufte ähneln denen der Phase vor der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts erschreckend.
Das klammern Georgette Dee und ihr altgedienter Pianist Terry Truck am Freitagabend im sehr gut gefüllten Capitol zwar nicht komplett aus („es fasst einen doch alles irgendwie an“). Trotzdem wollen sie mehr als anderthalb Stunden lang in erster Linie unterhalten – das gelingt auf sehr hohem Niveau.
Musikalische und emotionale Autobiografie
Das Programm heißt „Lebenslieder“. Es bietet nicht die „Greatest Hits der Dee“ à la „Alles von mir“ oder „Zehn Frauen“, sondern eine Art musikalische – oder emotionale – Autobiografie. Egal ob eigene Arbeiten oder Interpretationen – musikalisch strahlen fast alle Stücke im Glanz der schönen, urbanen Seite der Weimarer Republik. Bis auf einer Nummer zeigt sich die gender-fluide Sängerin in Alt-tiefer Hochform. Ähnliche eindrucksvoll: Ihre gesprochenen ausgedehnten Aperçus, die mal poetisch, mal philosophisch sind – oft aber einfach lebensklug, gern ein wenig vulgär. Und immer amüsant. Obwohl es um ernste Themen wie Liebe, Tod, Wiedergeburt, Amoklauf, Geist oder Kompost geht.
Ganz in Schwarz
Die schillernde Bühnenfigur Dee trägt – den dunklen Zeiten angemessen – komplett Schwarz. Die Haare sind – auch bei Truck – in Ehren erbleicht. Die Hauptdarstellerin muss in ihren Texten nicht groß in kleine, anzügliche Details gehen. Andeutungen über ihren Lebenswandel reichen meist schon, um die Fantasie des Publikums zu beflügeln – und herzliches Lachen zu provozieren. Es hat etwas essayhaft Flanierendes, wenn sie von der Wahrnehmung („irre“) über die „Selbstwahrnehmung („noch schlimmer“) zur Selbstverwirklichung („gibt es auch, ohne dass Leichen den Weg pflastern“) kommt: „Dann noch die Philosophen: ,Erkenne dich selbst.‘ – das kann böse nach hinten losgehen. Ich spreche aus Erfahrung – phasenweise ...“
Von Faithfull bis Dietrich
Musikalisch beeindrucken am stärksten Marianne Faithfulls melancholisch-brüchiger Comeback-Hit „The Ballad Of Lucy Jordan“ und der Spaziergang durch die Dämmerungen in „Manchmal“. Danach glitzert gekonnt der Ansatz einer Träne im rechten Augenwinkel. Auffällig: Auf der Bühne wird nicht mehr geraucht. In der Weinflasche dürfte eher Wassers sein, als Georgette Dee sie im Slapstick-Stil während Peter Alexanders „Ich muss wieder einmal in Grinzing sein“ routiniert leert. Für den Schluss mit dem Gedicht „Wir zwei“ und „The Rose“ gilt, was die 65-Jährige zuvor über Geist gesagt hat – er bleibe wie die Musik zeitlos und lebendig: „Man hört Schubert und weint. Grundlos.“
Vor der dritten und letzten Zugabe wird es ansatzweise politisch: Georgette Dee singt „Wenn ich mir ‘was wünschen dürfte“, das Burt Bacharach für ihr offenkundiges Vorbild Marlene Dietrich geschrieben hat. „Ich wünsche ihnen trotz allem eine herrliche Herbst und Winterzeit. Feiern Sie das Leben!“. Mehr kann eine Unterhaltungskünstlerin in dunklen Zeiten ihrem Publikum nicht mit auf den Weg geben.
Fazit: Die Dee mag mit 65 jetzt eines der diversen Rentenalter erreicht und schon vor Jahren über einen Rückzug von der Bühne nachgedacht haben. Ihre „Lebenslieder“ sollte sie aber unbedingt weitersingen. Die Welt braucht das, nicht nur in dunklen Zeiten. Und nur noch wenige Künstler können es wie die Berlinerin.
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