Er mag mittlerweile über 60 sein, die kunstvoll hochgezauselten Haare wirken etwas grauer – aber verlernt hat Urban Priol in zwei Jahren Pandemie-Zwangspause nichts. Bei seinem kabarettistischen Jahresrückblick „Tilt!“ hat sich auf den letzten Metern der traditionell ausverkaufte Mozartsaal im Rosengarten auch noch bis fast auf den letzten Platz gefüllt.
Es ist große Kunst, wie der 61-Jährige ab der für einen Montag etwas exotischen Anfangszeit um 19 Uhr seine Pointen, Charakterisierungen, Kurzparodien und Einordnungen im Stakkato aneinanderreiht. Weil: Richtig gern beschäftigt sich wohl kaum jemand mit dem zu Ende gegangenen Jahr, in dem für viele die beiden größten Krisen ihres Lebens aufeinandertrafen. Aber die pure Lust, mit der Priol sich in Unsinn und Widersprüchen suhlt, die 2022 mit sich brachte, wie er missratene Vorgänge, Abläufe und Rhetorik filetiert, wirkt einfach ansteckend. Und über all das intellektuelle, gefühlte und tatsächliche Elend mit etwas Distanz lachen zu können, wirkt schlichtweg befreiend. Lachen ist nun mal gesund.
Regelmäßig Szenenapplaus
Buchstäblich: Die für Priol typische hohe Pointen-Schlagzahl von zwei bis drei pro Minute hat fürs Publikum schon etwas von Kardiotraining. Und die Seele lacht ja mit. Anders als bei seinen früher Richtung vier Stunden ausufernden Auftritten im Rosengarten fühlt man sich im Hagel der Punchlines auch nicht mehr wie ein durchgeprügelter Boxer, sondern geht nach drei Stunden minus Pause entspannt und angeregt seiner Wege.
Zumal Priol inzwischen auch den Feuereifer, mit dem er lange die Steilvorgabengeber aus Politik und Wirtschaft verbal gegrillt hat, ein paar Grad herunterkühlt. Nicht umsonst rät er in seinem Fazit zu Augenzwinkern und entspannterem Umgang mit der komplizierter werdenden Welt und eskalierenden Debatten. Sein Publikum goutiert auch sanfteren Spott und lässige Ironie – es muss nicht permanent das Fallbeil im Akkord rauf- und runterrasen.
Generell sind die Reaktionen im parteitagsgestählten Mozartsaal interessant, auch abseits des Lachens. Kräftigen Szenenapplaus gibt es zum Beispiel für den Satz, dass es doch ganz schön sei, dass unter der Grünen Annalena Baerbock vorbei sei mit der „Katzbuckelei im Auswärtigen Amt“ gegenüber Despoten und Autokraten. Ähnlich viel Beifall erntet das Attac-Mitglied, als es Verständnis für die Letzte Generation äußert und die Polemik ihrer Kritiker aus Springer-Medien und Union attackiert.
Überhaupt trägt er ein Herz für die Jugend auf der Zunge. Etwa, wenn Priol die „Koalition der Unwilligen“ aus CDU, CSU und AfD angreift, weil sie dem Wahlrecht mit 16 entgegenstehen. Dabei dürfe man im Alter von 16 Jahren den Bund fürs Leben schließen und sogar der CDU beitreten. Der sei wohl ein Wahlrecht ab 65 lieber. Derlei Rückwärtsgewandtheit behagt ihm nicht: „Es sind so irre Zeiten, da ist neues Denken gefragt.“
Euphorisch fällt auch die Reaktion auf seine Parodie des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, wenn Priol „Waschlappen-Kretschmann“ sagen lässt, was er von den gewaltigen Anforderungen an die Grünen hält: „Wir sind der Wischmopp der Ampel.“
Natürlich bekommen auch der nicht-parodierbare Zeitenwenden-Kanzler Olaf Scholz (SPD) sowie Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne), bei dem die bipolare Störung im Namen seines Hauses schon eingepreist sei, auch ihr Fett weg. Wobei Priol der Ampel-Regierung generell zu Gute hält, in welcher Ausnahmesituation (Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise) und mit welchen „Erblasten“ (Zitat Helmut Kohl, CDU, mit Blick auf seine 14 Jahre amtierenden SPD-Vorgänger) sie es zu tun bekommen hätten. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) schlage jeden Tag drei Kreuze, „ dass er nicht in Verantwortung beweisen muss, was er alles nicht kann“, mutmaßt Priol.
Aber auch die Ampel-Minister müssen einstecken: Allen voran der „eigentliche Oppositionsführer“ und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Oder dessen Landauer Parteifreund „Volker Wirsing, äh Wissing“: „Ich hätte nie gedacht, dass man es nach all den CSU-Granden im Verkehrsministerium schlechter machen könnte – aber es geht.“ Auf die strauchelnde Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) prügelt Priol fast gemäßigt ein. Um den Weg für „das Flintenweib der FDP“, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, freizumachen, gehöre sie ins Familienministerium. „Familiensinn hat sie ja bewiesen – Helikoptermutter halt“, erinnert der Kabarettist an die (nicht unrechtmäßige) Mitreise ihres Sohnes zu einem Truppenbesuch als Zwischenstation zum Sylt-Urlaub in einem Bundeswehrhubschrauber.
Zum Schluss sucht Priol wie immer den Dialog mit dem von ihm gespielten, stets verzagten deutschen Michel und verspricht: „2024 wird auf jeden Fall besser als 2023. Und wenn doch nicht. Dann machen wir das Beste draus.“ Wir müssten lernen, positiv und optimistisch zu sein: Denn: „Aus jeder Krise kann man nicht unbedingt stärker, aber zumindest klüger hervorgehen.“
Es sind so irre Zeiten, da ist neues Denken gefragt.
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