Oft erhalten Epochen erst einen Namen, nachdem sie abgeschlossen sind. Erst die Rückschau lässt in vielen Fällen erkennen, was eine Zeit wirklich geprägt hat. Nur so lassen sich zuverlässig zu viel Nähe und Befangenheit ausschließen, wenn es darum geht, festzuhalten, was einen Platz in der Geschichte beanspruchen darf und was nicht.
Dennoch scheint Übereinstimmung zu herrschen, dass das Zeitalter der Digitalisierung – um die sich auch die Industriemesse in Hannover im April drehen wird – längst begonnen hat und wir uns mitten in einem Umbruch befinden. Aber einfach ist das, was unter Digitalisierung zu verstehen ist, in all seiner Komplexität und auch Widersprüchlichkeit nicht in den Griff zu bekommen. So wird der Digitalisierung nachgesagt, sie schaffe massenhaft Beschäftigung, andererseits wird auch von ihr behauptet, sie vernichte Arbeitsplätze in großem Stil. Auf dem Gebiet der Medizin wird sie vielen Menschen ungeahnte Heilungschancen bringen, aber sie wird auch Menschen krank machen. Mit Hilfe der Digitalisierung werden sich Verbrechen leichter aufklären, aber auch raffinierter begehen lassen.
Riesige Datenbanken
In Kinos, Theater und Opernhäuser hat die Digitalisierung ebenso hineingefunden wie in Büros, Apotheken und Buchhandlungen. Archive können mit ihrer Hilfe nahezu grenzenlos viel speichern und das Gespeicherte schneller und einfacher wiederfinden. In der Industrie werden ganze Fertigungsstraßen digital gesteuert, Flugzeuge, Eisenbahnzüge und neuerdings auch Autos und Drohnen mögen sich ohne diese geheimnisvolle Kraft des Digitalen nicht länger fortbewegen. Fatalerweise gilt das auch für Raketen und Kanonenkugeln. Waffensysteme werden unfehlbar, weil sie sich ihre Ziele selbst suchen und gegnerische Abwehrmechanismen außer Kraft setzten können.
Es ist deshalb keine Übertreibung, von einer digitalen Revolution zu sprechen, die alle Bereiche der Gesellschaft, also Politik, Wirtschaft und Kultur, erreicht hat und im Begriff ist, die Gegenwart radikal zu verändern. Und dennoch scheint die rasante Durchdringung aller Lebensbereiche in einem groben Missverhältnis zum Interesse zu stehen, das die Geisteswissenschaften dem Phänomen entgegenbringen. Es war immer guter menschheitsgeschichtlicher Brauch, neue Erkenntnisse oder Erscheinungen auch erkenntnistheoretisch zu begleiten. Auf diesem Gebiet aber war die Digitalisierung mit ihren gigantischen Datenschleudern schneller und jeglicher notwendiger philosophischen Erörterung um Lichtjahre voraus.
Dabei lässt sich die gegenwärtige digitale Revolution mit einer anderen Zäsur der Menschheitsgeschichte vergleichen: mit der industriellen Revolution, die vor rund 150 Jahren ihren Anfang nahm.
Es war die Technik, die Erfindung von Maschinen und Fließbändern, die das bisherige System des Handwerks, der Manufaktur, der kleinteiligen Arbeit in den Hintergrund gedrängt hat. Die Industrialisierung hat der Menschheit dann bekanntlich sowohl Arbeitslosigkeit und Massenarmut als auch Fortschritt und Wohlstand beschert.
Philosophie und Literatur, Malerei und selbst die Musik nahmen die ungeheuren Umbrüche des neuen Zeitalters in sich auf und stellten sie zur Diskussion. Plötzlich war die Arbeiter-Dichtung als neue literarische Gattung entstanden – und Dramen und Romane von Bertolt Brecht bis Gerhard Hauptmann und anderen mehr. In der Kunst war die Epoche des Expressionismus geboren.
Visionäre Werke sind selten
Ein ähnliches Interesse bei Künstlern, Philosophen oder Literaten für die neuerliche Revolution der Arbeitswelt, die den Namen Digitalisierung trägt, ist bis heute kaum erkennbar. Ein paar Aufsätze in Fachzeitschriften vielleicht oder der eine oder andere Bestseller, wie etwa „The Circle“ von Dave Eggers. Dabei haben George Orwell oder Aldous Huxley sie bereits vor Jahrzehnten heraufdämmern sehen, die schöne, neue Welt. Die bildende Kunst testet zwar die für sie nutzbaren technischen Möglichkeiten aus, oftmals jedoch ohne diese selbst zum Gegenstand ihrer Betrachtung zu machen. Das war’s, im Großen und Ganzen.
Es wird also Zeit, dass sich Literaten und Dramatiker, Philosophen, bildende Künstler und auch Musiker der digitalen Revolution annehmen und deren Tragweite kritisch-analytisch begleiten. Die dabei zutage tretenden Erkenntnisse könnten den Umgang mit den neuen Technologien erleichtern und deren Konsequenzen bewusster machen.
Internet und Digitalisierung
- Das „www“ in Internetadressen steht für World Wide Web. Als Erfinder des World Wide Web und des wichtigen HTML-Codes gilt der britische Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee. Die Grundstrukturen entwickelte er während seiner Arbeit für die Schweizer European Organization for Nuclear Research (CERN).
- Digitalisierung steht im weiten Begriffsverständnis für den Wandel hin zu digitalen Prozessen mittels Informations- und Kommunikationstechnik.
- Mit Hilfe des Internets ist es möglich, Daten einer unbegrenzt großen Zahl von Nutzern zugänglich zu machen. Sie können diese Daten gemeinsam bearbeiten – sofern ihnen die Rechte hierfür eingeräumt werden. Die Fähigkeit der Vernetzung verschafft der Arbeitswelt ungeahnte Möglichkeiten. baw
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