Er war Stimmungszauberer, Stilist und Grandseigneur von Graden, der es freilich nie – wozu auch? – auf den Denkmalsockel schaffte. Eduard Graf von Keyserling, geboren 1855 in Tels-Paddern, Kurland, und gestorben 1918 in München, aus uraltem baltischem Geschlecht, gilt leichthin als notorischer Chronist der deutschen Dekadenz. Nur: die ist, anders als das Proustische Epochenbild, nicht eine Welt der Lüge und Verstellung, vielmehr ein Kosmos gültiger ererbter Wertvorstellungen.
Kein Wunder, hatte er doch, erst in Dorpat, dann in Wien, Jura, Philosophie und Kunst studiert und seinen Platon, Kant und Schopenhauer verinnerlicht.
Nach einer längeren Italienreise ließ der überzeugte Junggeselle sich mit drei Schwestern, die ihn einst hingebungsvoll umsorgen sollten, in München nieder, wo er in der Schwabinger Bohème mit seinen weltgewandten, geistreichen Feuilletons alsbald Furore machte.
Werke, die Frische atmen
Durch eine Syphiliserkrankung früh erblindet, wird es um den einstigen Hans Dampf in allen Kneipen-, Kabarett,- Ausstellungs- und Theatergassen grausam still. Der alte Wirbelwind vereinsamt, doch bleibt ihm seine launige Prägnanz erhalten, so dass noch die spätesten, den Schwestern diktierten Werke eine seltene Frische atmen. Jetzt ist, im Rahmen der vorzüglichen Schwabinger Ausgabe, als dritter und letzter Band die Sammlung „Kostbarkeiten des Lebens“ erschienen, ein Kompendium seiner übersprudelnden poetischen wie theoretischen Verlautbarungen, die die Herausgeber Klaus Gräbner und Horst Lauinger verlässlich bündeln: Kunstkritiken, Ausstellungsberichte, Briefe, bereichert durch bisher verschollene Erzählungen sowie eine Chronik zu Leben und Werk, einen exzellenten Kommentar und 35 Bildtafeln – ein Muss für jeden an Kulturgeschichte interessierten Leser.
Keyserling versteht sich auf die Spezifika der Liebe, des Komforts, der Alten Meister und der Kunst des Traumes wie der Zukunft. „Über den Messias“ gibt er Auskunft, „Über Festtage“ und „Schlachtendichtung“, „Über den Hass“. Seine Methode beschreibt er so: „Durch die Welt gehen und die Kostbarkeiten des Lebens sammeln, aus dem Unbedeutendsten noch das Bedeutsame, aus dem Vergänglichen noch das Ewige herauszulesen, das ist eigenstes Poetenhandwerk … Der Dichter ... findet in alledem etwas, das tröstet, und das ist die Schönheit.“ Dafür allerdings muss er „die feinste Zunge haben, um aus allen Dingen ihre geheime Süßigkeit herauszuschmecken“.
Seine brillanten Skizzen voller farbenprächtiger Gedankenblitze elektrisieren noch immer. Seine Ironie, sein Witz, im alten Doppelsinne von Vernunft, Verstand und Klugheit einerseits, Spott, Scherz und Geistesschärfe anderseits, verhalfen ihm zu Lebzeiten zu hohem Ansehen bei Tucholsky, Hermann Hesse, Rilke, Wedekind oder Thomas Mann, doch sollte er nach seinem Tode ziemlich in Vergessenheit geraten.
Dies zu ändern ist der neue Band, ein Dokument von Keyserlings vitaler Meisterschaft in allen Stillagen der deutschen Prosa, so überzeugend wie entschieden konkurrenzlos angetreten.
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