Am 14. Januar ist es 250 Jahre, dass die Magd Susanna Margaretha Brandt in Frankfurt als Kindsmörderin aufs Schafott geführt wurde. Ihr Schicksal sollte nicht nur Rechtsgeschichte schreiben, sondern den jungen Advokaten Johann Wolfgang Goethe zu der „Gretchentragödie“ als zentrales Motiv in seinem „Urfaust“ inspirieren, den er unter dem Eindruck des Prozesses schrieb. Die Geschichte der 24-jährigen Gasthof-Hilfskraft, die sich von einem durchreisenden holländischen Gesellen betören ließ, ihre Schwangerschaft verbarg, einen in der Waschküche geborenen Jungen tötete, floh, aber schon bald im Gefängnis landete und nach einem Schuldspruch am 14. Januar 1772 mit dem Schwert öffentlich hingerichtet wurde – sie wühlte Goethe auf.
Mitleid für die Täterin
In seinem „Urfaust“ wie im späteren „Faust“ verwob er das reale Schicksal der Dienstmagd mit der Volkssage um den wandernden Wunderheiler, Wahrsager und Alchemisten Johann Georg Faust aus dem 16. Jahrhundert. Freilich griff nicht nur der juristisch ausgebildete Dichter das Problem zunehmender Tötungen von Neugeborenen auf. Aber Goethe schuf mit seinem Gretchen die literarisch wohl bekannteste Kindsmörderin – abgesehen von der mythologischen Königstochter Medea, die aus Rache an ihrem Gemahl die eigenen Söhne erdolchte. Anders als der antike Poet Euripides wollten Schriftsteller des Sturm und Drang Tragödien jenseits sagenumwobener Frauengestalten darstellen: Wenn sich bürgerliche Mädchen an ihrem unehelich geborenen Kind versündigen, um die Sünde unzüchtiger Liebe zu verbergen.
Vier Jahre nach der Hinrichtung der Frankfurter Magd brachte Heinrich Leopold Wagner sein Trauerspiel „Die Kindsmörderin“ heraus, das auch deshalb Furore machte, weil Goethe darin ein „Plagiat“ seines Urfaust sah. Und Zeitgenosse Gottfried August Bürger – jener volkstümliche Autor, der erfolgreich neu bearbeitete Münchhausen-Abenteuer herausbrachte – schilderte in seiner Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“, wie ein Mädchen, „schuldlos“ gleich einem Täubchen, von einem blaublütigen Junker verführt, geschwängert und als nicht standesgemäß im Stich gelassen wird. Die Geschichte endet mit tödlichem Wimmern am Unkengestade.
Dass eine verlassene junge Mutter nicht auszuhalten vermag, durch ihr in Schande geborenes Knäblein an den entschwundenen Geliebten erinnert zu werden, machte Friedrich Schiller zum Thema seiner Kindsmörderin-Ballade. „Trauet, Schwestern, Männerschwüren nie!“, ruft die Unglückliche auf dem Weg zum Henker in einem inneren Monolog Geschlechtsgenossinnen zu. Aus heutiger Sicht mögen solcherart Gedichte schwülstig erscheinen. Und dennoch waren sie aufwühlend, ja aufrührerisch – weil Frauen, die aus Verzweiflung ihr Neugeborenes umbrachten, entgegen herrschender Moral nicht als Monster dargestellt wurden – und obendrein männliche Verführer Mitschuld bekamen.
Dass abschreckende Bestrafungen wie Zurschaustellen am Schandpranger, kombiniert mit Urteilen wie Begraben bei lebendigem Leibe das Töten unehelicher Babys nicht einzudämmen vermochten, begannen auch Juristen zu begreifen. Und so setzte 1780 ein „Menschenfreund“ 100 Dukaten aus, auf dass „die besten ausführbaren Mittel, um dem Kindsmord Einhalt zu thun“ eingereicht werden. Später sollte sich herausstellen, dass die in den „Rheinischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit“ anonym veröffentliche „Preisfrage“ von dem am Mannheimer Oberappelationsgericht tätigen Ferdinand Adrian Freiherr von Lamezan stammte. Über 400 Antworten gingen ein – verfasst von Männern unterschiedlicher Profession. Auch wenn Angst vor Ehrverlust und sozialer Ausgrenzung als Hauptmotiv bei Kindsmord erkannt wurde, so durften nur „schamhafte Frauen“, nicht aber „schamlose Huren“, wie es in einer der prämierten Zusendungen hieß, Mitleid erwarten.
Nichts an Aktualität verloren
Auch die Literatur brauchte Zeit, ehe sie tötenden Müttern einen Platz gab, die so gar nicht dem Bild der verführten Unschuld entsprachen. Bertolt Brecht beschrieb 1922 in seiner Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ eine Waise, „unmündig, merkmallos, rachitisch“, deren „Sünd‘ groß war“ – aber auch deren Leid. Gerade mal knapp zwei Jahrzehnte davor hatte noch im Wiener Burgtheater Erzherzogin Marie Valerie das Gerhart-Hauptmann-Drama um die zum Kindsmord getriebene Rose Bernd empört verlassen und mit aristokratischen Damen in Bozen geplante Aufführungen verhindert – was den Erfolg des Stückes keineswegs aufhielt.
Was passieren muss, damit eine Mutter ihr Kind tötet – das sollte auch spätere Schriftsteller umtreiben. Beispielsweise den (heute 77-jährigen) Dramatiker Peter Turrini. Er nahm 1973 eine Zeitungsmeldung über einen in wohlhabenden Verhältnissen getöteten Säugling zum Anlass, Hintergründe auszuleuchten. Sein Bühnenstück hat nichts an Aktualität verloren: Vor vier Wochen ging durch die Medien, dass in Halle an der Saale am Zaun eines Werkstoffhofes ein totes Baby gefunden wurde. Laut Obduktionsergebnis hat es nach seiner Geburt noch gelebt.
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