Mannheim. Wie kann 300 Jahre Barockmusik so modern, so zeitgemäß, so inspiriert wirken? Zumal sie uns vertraut ist, abgenudelt gar durch Werbespots und portionsweise Häppchen in Klassiksendern. Jeder kennt Antonio Vivaldis opus Nr. 8, die Sammlung von vier Violinkonzerten, die unter dem programmatischen Titel „Die Vier Jahreszeiten“ ins kollektive musikalische Gedächtnis eingebrannt ist.
Am letzten Abend der Schwetzinger Festspiele – man kann die bejubelte Vorstellung im ausverkauften Rokokotheater getrost als krönenden Abschluss bezeichnen – erlebt man diese Musik jedoch ganz neu. Erlebt sie mit allen Sinnen, fühlt sie körperlich, atmet mit ihr, schwebt, schwelgt und schwitzt sogar: „Tanz den Vivaldi!“ Unter Leitung des mitreißenden französischen Geigers Julien Chauvin mit seinem „Le Concert de la Loge“ und dem Street-Dance-Tanzensemble „Compagnie Käfig“ taucht man ein in einen Strudel aus Emotion, Bewegung, Virtuosität und Ästhetik. Ein Gesamtkunstwerk.
Das so beginnt wie es endet, mit der Sinfonia aus Vivaldis Oper „L’Olympiade“. Zwischen den Violinkonzerten „Frühling“, „Sommer“, „Herbst“ und „Winter“ erklingen weitere Vivaldi-Kompositionen. Wie aus einem Guss ist das konzipiert. Dabei so natürlich, selbstverständlich, sympathisch unverkrampft. Scheinbar improvisiert.
Musikalische Fusion trifft auf urbanen Tanzzauber
Auf der leeren Bühne wird hauptsächlich stehend musiziert. Auf alten Instrumenten, einschließlich Theorbe und Cembalo, und in individueller, herbstlich bunter Kleidung. Die Musiker wiegen sich, bewegen sich im Takt, wechseln die Positionen, werden auf fahrbarem Untersatz auch mal – wie der Cellist bei der viersätzigen a-moll-Sonate für Violoncello und Basso continuo – in die Mitte geschoben. Und schauen – ebenso fasziniert wie das Publikum im Saal – dem lässigen Treiben der sieben Hip-Hopper zu.
Die schälen sich aus dem Orchester heraus, kriechen, winden, drehen sich, gestikulieren mit all ihren Gliedmaßen, sprechen mit ihren Körpern. Umtanzen, umgarnen, mal einzeln, mal zusammen den genauso virtuos wie melodiös und farbenreich spielenden Julien Chauvin an der Sologeige. Beim sommerlichen Gewitter mit seinen maschinenartigen Tremoli und aufgepeitschten Tonleitern gibt es Breakdance vom Feinsten. Olympiareif die Moves, die Rocks am Boden mit einer Hand, auf dem Kopf stehend, Ups und Downs, eingefrorene Positionen, Sprünge, wahnwitzige Drehungen und Saltos: Akrobatik, lässig, improvisiert, individuell. Atemberaubend.
Tanz und Musik verschmelzen zu neuem Erlebnis
Vivaldis Musik wird durch die Compagnie aber nicht einfach gedoppelt, „vertanzt“ oder gar naiv bebildert. Die Choreografie von Mourad Merzouki verleiht Vivaldi eine weitere Dimension. Ob kleine Gesten, aufregende Soloeinlagen, intensive Pas de Deux oder Gruppenaktionen: Das Laufen, Rennen, sich Begegnen, sich Verknoten, sich Auflösen, aber auch einfach die Ruhe, die Tanzpausen, die der Musik Raum gibt auf der Bühne, all das lässt einen die Musik intensiver begreifen. Bei den fließenden Bewegungen zum Orgelpunkt, der Akrobatik in den Presto-Teilen, der pulsierenden Rhythmik, den aufgeregten Staccati und dem fröhlichen Zupfen der Streicher fließen Ohr und Auge ineinander. Die allumfassende Bewegung von Musik und Tanz erweckt die alte, vertraute Musik zu ganz neuem „Er-Leben“.
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