Interview - Anne-Sophie Mutter spricht im Interview über Neue Musik, ihre Bewunderung für den Jazz, den rauen und lauten Ton in den sozialen Medien und die Verantwortung beim Thema Klimawandel

Violinistin Anne-Sophie Mutter über Fleischkonsum, soziale Medien und ihren Aufritt in Mannheim

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Am Montag, 25. Oktober, in Mannheim zu Gast: Anne-Sophie Mutter. © The Japan Art Association / The Sankei Shimbun

Mannheim. Das Telefon klingelt. Sie ist direkt dran. Anne-Sophie Mutter, das Wunderkind, die Weltgeigerin und Mutter zweier Kinder, klingt charmant bayerisch und gut gelaunt. Eigentlich wie immer. Die 1963 geborene Violinistin wird am Montag, 25. Oktober, im Mozartsaal des Mannheimer Rosengartens die neue Pro-Arte-Saison eröffnen - unter anderem mit dem neuen Duo „Gran Cadenza“ von Unsuk Chin, das sie am 21. Oktober uraufgeführt hat. Unsuk Chin erhielt 2007 den Heidelberger Künstlerinnenpreis - darüber und über vieles mehr sprechen wir.

Frau Mutter, wo sind Sie?

Anne-Sophie Mutter: Ich bin vor zwei Tagen von meiner Amerikatournee zurückgekommen, jetzt versuche ich, in der Nähe von Kitzbühel mit meinem Jetlag klarzukommen.

Beim letzten Interview habe ich Sie gefragt, ob Sie schon geübt haben. Sie mussten lachen. Es war morgens. Jetzt ist Spätnachmittag. Wie sieht es aus?

Mutter: Ich bereite mich intensiv auf die Tournee vor. Wir haben ja die Uraufführung von Unskuk Chins „Gran Cadenza“, und da gibt es leider eine Trillion von Noten, die unfassbar schwierig sind. Acht Minuten im Duktus koreanischer Bambusflöten, das ist geschwind dahineilend und auch flüchtig. Ich will aber trotzdem die richtigen Noten spielen.

Es ehrt Sie, dass Sie überhaupt zeitgenössische Musik spielen. Was reizt Sie daran?

Mutter: Die Herausforderung, eine völlig fremde Sprache zu lernen. Und da das in den meisten Fällen auch Uraufführungen sind und man keine Vorinformationen hat, ist das besonders reizvoll. Man kommt erst gar nicht in Versuchung, etwas nachzubeten. Man betritt eine Terra Nova und muss keine Traditionen abschütteln. Ich kann mich da noch freier im Dialog mit dem Komponisten entfalten und Tradition schaffen.

Hat es Sie eigentlich nie gereizt, selbst zu komponieren?

Mutter: Na ja, ich bin seit Jahrzehnten für Komponisten als Muse so eine Art Hofgeiger. Ich empfange die Partituren und ziehe mich Haare raufend ins Kämmerchen zurück. Es ist ein absolutes Privileg, weil ich dadurch so viele Stile spielen darf. Es geht ja so weit, dass viele Komponisten sich durch mich überhaupt erst dem Geigenrepertoire geöffnet haben. Gerade habe ich die Uraufführung von John Williams’ zweitem Violinkonzert gespielt - unter seiner Leitung. Das klingt nach Jazz, und das ist eine besondere Freude, weil Jazz die große Inspiration meines Lebens ist. Das Zusammenwirken der Musiker in einer Jazz-Session ist … the most sophisticated thing (das Anspruchsvollste). John Williams war jedenfalls erstaunt, dass jemand, der am Rande des Schwarzwalds groß geworden ist, ein Gefühl für diese Musik hat. Aber zur Frage: Ich könnte nichts Bleibendes komponieren.

Kommt das mit dem Jazz auch von Ihrem Ex-Mann André Previn?

Mutter: Das geht in meine Kindheit zurück. Meine Eltern haben auch sehr viel Jazz gehört. Billie Holiday, Ella Fitzgerald oder Oscar Peterson. Aber natürlich war André ein unfassbar guter Jazzmusiker, das habe ich an ihm unendlich bewundert.

Sind Sie als ehemaliges Wunderkind und hochbegabte Geigerin auch manchmal traurig, dass Sie das Improvisieren, was ja der Kern des Jazz ist, nie gelernt haben?

Mutter: Das ist leider etwas, das in der musikalischen Bildung des Westens, wenn überhaupt, nur eine sehr kleine Rolle spielt. Das gibt es in Amerika durchaus. Natürlich habe ich das studiert, Harmonielehre und den ganzen Theoriekanon. Aber es war neben meinem Klavier-, Geigen- und Bratschenstudium so, dass ich in 1000 Jahren nicht an Improvisation gedacht hätte. Wenn es das damals gegeben hätte, hätte ich es vielleicht angenommen. Ich bedaure, dass unser Kulturkanon so eng ist in der musikalischen Ausprägung, sehr eng, sehr weiß und sehr westlich. Gott sei Dank ändern wir das.

Es ist ja ein Teufelskreis. Wir bilden an Musikhochschulen hochvirtuose Musiker und Lehrer aus, die schwerste Werke von Liszt spielen können, aber spontan mit „Hänschen klein“ vielleicht Probleme bekommen. Diese Enge wird immer noch gelehrt und an Musikschulen dann wieder weitergegeben …

Mutter: Transponieren zum Beispiel habe ich schon gelernt. Es gibt ja auch ein paar klassische Sängerinnen, die jetzt meinen, sie könnten so singen wie Billie Holiday. Wir haben das zuhause auch gemacht. André fand das auch gut. Aber ich würde damit nie auf die Bühne gehen. Aber ich gebe Ihnen absolut Recht. Wir werden auch nicht als Musiker ausgebildet, sondern als Instrumentalisten und Spezialisten. Als Geiger spielt man normalerweise wenigstens noch viel Kammermusik. Darauf ist man angewiesen.

Anne-Sophie Mutter

Die Violinistin: Anne-Sophie Mutter, 1963 im badischen Rheinfelden geboren, begann ihre internationale Karriere bei den Festwochen Luzern 1976 und gab im Jahr darauf bei den Pfingstkonzerten unter Herbert von Karajan ihr Salzburg-Debüt. Seither ist sie Weltstar, als Solistin und Kammermusikerin gefragt und in allen Musikmetropolen Europas, Nordamerikas und Asiens aufgetreten. Mutter ist sowohl sozial, medizinisch als auch kulturell engagiert.

Das Konzert: Montag, 25.10., 20 Uhr (Mozartsaal Mannheim). Mutter’s Virtuosi u.a. mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ und Unsuk Chins „Gran Cadenza“

Karten: 0800/6 33 66 26 (bis einen Tag vor dem Konzert, Tickets werden an der Abendkasse hinterlegt).

Woran arbeiten Sie am wenigsten gern: Sind es die neuen Werke?

Mutter: Ich brauche schon Zeitdruck, um mir neue Noten genauer anzuschauen. Aber ein Künstler ist auch sehr fokussiert und lässt sich nicht so schnell abschütteln. Zurzeit warte ich gespannt auf den neuen Geigenpart von Thomas Adès. Die nächste große Uraufführung. Ich übe eigentlich alles gern. Wobei: Es gab auch schon Werke, an denen ich hart gearbeitet habe, die ich aber dann nicht aufgeführt habe, weil ich nicht daran geglaubt habe.

Die Zusammenarbeit mit welchem Komponisten war für Sie die überraschendste?

Mutter: Alle, mit denen ich gearbeitet habe, sind wahnsinnig spannend, aufregend und bewundernswert. Jeder auf seine Art und Weise.

Das war doch reine Diplomatie!

Mutter: Nein, alle sind spannend. Es ist immer eine Offenbarung intellektueller und emotionaler Art. Ich habe nur eine einzige Komponistin gespielt, der ich vor der ersten Probe ihres Violinkonzerts für mich nicht persönlich begegnet bin: Sofia Gubaidulina.

Johannes Brahms wurde bei seinem Violinkonzert von Geiger Joseph Joachim beraten. Fragen Komponisten wie Wolfgang Rihm Sie auch nach Rat?

Mutter: Gerade Rihm hat am Anfang unserer Jahrzehnte dauernden Zusammenarbeit gefragt, ob es etwas gebe, was ich nicht mag, was er weglassen soll. Ich habe natürlich geantwortet: Bloß nicht! Du schreibst, ich spiele! Aber Unsuk Chin habe ich schon gebeten, einiges umzuschreiben. Darauf ist sie aber nicht eingegangen und meinte: Das wird sicherlich wunderbar klingen, ich würde das bestimmt schaffen.

Richard Wagner hat ja auch keinerlei Rücksicht auf Tenöre und Sopranistinnen genommen. Auch 140 Jahre nach seinem Tod kann das niemand so richtig gut …

Mutter: Ja, ich kann das nachvollziehen. Ich schreite nur ein, wenn etwas physikalisch unmöglich ist. Aber was teils erst beim Proben Gestalt annimmt, ist das Tempo. Komponisten hören im Kopf schneller, als das dann klingt. Das erklärt auch, warum es beim tauben Beethoven so schnelle Tempi gibt.

„Für mich war die Violine die größte Entdeckung meines Lebens und ist es bis heute geblieben.“ Dieser Satz steht auf Ihrer Homepage ganz groß. Was war Ihre zweitgrößte Entdeckung?

Mutter: Ich war fünf Jahre, als man mir diese kleine Holzschachtel auf die Schulter gelegt hat. Da hat sich ein Kosmos von Zauberei aufgetan. Das ist jetzt mehr als 50 Jahre her. Das war die größte Entdeckung. Ich bin fasziniert, wie sehr man mit Musik - im Kleinen, aber besser so als gar nicht - die Welt verändern kann. Besonders auch jetzt, nach den 18 Monaten kulturellem Stillstand für uns Künstler. Es ist toll zu spüren, zuletzt in Boston, was für ein intensiver Dialog zwischen Bühne und Publikum entsteht. Aber die zweitgrößte Entdeckung war wohl die Schwangerschaft und die Kinder. Aber neulich saß ich in Dallas, wo ich die Saison eröffnet habe, unter einem Baum und habe eine Stunde lang einem Vogel beim Singen zugehört. Was für eine Vielfalt. Unfassbar!

Sie sind ja aus einem Medienhaushalt. Ihr Vater war Verlagsleiter einer Tageszeitung. Wie erleben Sie denn heute die Medienvielfalt und das aggressive Agieren der Menschen in sozialen Medien?

Mutter: Die Verrohung des Tons und des Umgangs miteinander empfinde ich als extrem beunruhigend. Die Unfähigkeit, in einen Dialog zu treten, dieses SMS-Rausgeschreie ist schrecklich. Meinungsfreiheit bedeutet ja nicht, dass ich mich zu allem äußern muss.

Sie haben sich immer auch gesellschaftspolitisch geäußert. Was macht Ihnen am meisten Angst?

Mutter: Wir müssen wieder zu einem Dialog finden. Ich lobe mir unser parlamentarisches System und die Möglichkeit, dass, wie gerade, drei Parteien über einen offenen Dialog zueinander finden. Wir müssen es schaffen, die vielen verschiedenen Lebensentwürfe dialogisch zusammenzubringen, aufeinander zuzugehen, uns gegenseitig zuzuhören. Deswegen ist Musik so wichtig. Man hört zu. Während ich spiele und zuhöre, ändert sich meine Meinung über das musikalische Geschehen, weil sich die Information ändert. Und so sollte es in einer Gesellschaft auch sein.

Das über allem schwebende Angstthema ist ja der Klimawandel. Was aber auch Angst machen kann, ist die zunehmende Zersplitterung der Gesellschaft in kleinste kulturelle, Interessen- und Altersgruppen. Wenn Sie von Dialog sprechen, meinen Sie sicher auch den Brückenbau zwischen diesen Gruppierungen …

Mutter: Also meine Tochter ist gerade 30 geworden. Wenn ich die Tageszeitung ansehe und die Schlagzeilen aus ihrer Kindheit mit heute vergleiche. Wandel in der Autoindustrie. Tempolimit. Es ist nichts passiert. Das sollte uns wachrütteln. Ich sehe mit großer Freude, dass die Generation meiner Kinder sehr viel konsequenter ist als meine. Wenn es um Umweltschutz geht. Wenn es darum geht zu überlegen: "Wo ist das T-Shirt hergestellt? Ich lebe vegan." Das hat unsere Generation, verschlafen. Das geht zu unseren Lasten.

Und als Weltstar ist es schwer. Sie müssen ja ständig in der Welt herumjetten …

Mutter: Na ja, man kann ja überlegen, ob man Zug fährt. Ich bin passionierter Zugfahrer. Ich spende seit Jahren für jeden ökologischen Fußabdruck, den ich hinterlasse. Das steht auch in meinen Verträgen so drin. Die Veranstalter müssen also für Baumpflanzaktionen spenden, das ist ja selbstverständlich. Was den ökologischen Umgang mit Ressourcen angeht, da habe ich schon lange ein Auge drauf. Wenn ich etwas bedaure, dann, dass ich lange in meinem Leben Fleisch gegessen habe. Das finde ich ethisch nicht vertretbar. Ökologisch schon gar nicht.

Sie sind also Vegetarierin.

Mutter: Ich bin Pescetarier, esse ab und zu mal Geflügel, aber sehr, sehr viel weniger als vor 30, 40 Jahren. Wir müssen alle daran arbeiten, dass sich ökologisch was tut. Noch etwas ist mir wichtig: dass in den Schulen der Umgang mit der digitalen Welt gelehrt wird, damit die Kinder auch den Unterschied lernen zur Realität, dass es eine unabhängige Presse gibt und nicht irgendwelchen schnell weitergeposteten Pseudonachrichten vertraut werden kann. Die Schnelligkeit ist der Feind der Informationsaufnahme.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen