Mannheim. Gott ist nicht tot. Er hat sich nur verkrümelt und lebt jetzt trauernd um die böse Welt im Gesang von Julia Faylenbogen fort, in ihrem „Lacrymosa dies illa“, das die Sängerin so schön wie zart wie beseelt und, ja - nomen est omen -, einfach tränenrührend in den Mozartsaal injiziert.
„Tränenreichster aller Tage“ heißt „Lacrymosa dies illa“ in etwa, und wer hier, um Viertel vor Neun, bei dieser universellen Musik Giuseppe Verdis keine außergewöhnliche Sekretbildung ums Auge herum spürt, sollte - kleiner Scherz - zum Arzt gehen.
Spektakel vom Nationaltheaterorchester und Opern- und Extrachor der Mannheimer Oper
Faylenbogen zieht das vom zärtlich anklagenden Streicherapparat begleitete ariose Thema vom F über das B und C zum Des hinauf, als gelte es, damit das gesamte Leiden der Menschheit zu beklagen - ein Lamento, das später Bassist Sung Ha nur in ähnlicher Intensität erreicht, während Faylenbogen sich dann in kleinen Schritten mit viel Chromatik eine Oktave „nach oben weint“, wo Sopranistin Anush Hovhannisyan bestens einsetzt.
Rück- und Ausblick
- Bilanz der Saison: Die Musikalische Akademie des NTM hatte im Schnitt rund 1700 Besucher pro Abend - also 27 200 Gäste in 16 Konzerten. Am besten besucht war der Abend mit Pianist Jan Lisiecki und Verdis Requiem. Im Abonnement sind derzeit 2500 Menschen, zur neuen Saison aktuell 200 mehr. Über eine „deutliche Zunahme an Studi/Schüler-Tickets“, freut sich Akademiechef Fritjof von Gagern besonders.
- Nächstes Konzert: 14./15. Oktober, 20 Uhr mit Charles Ives (Three Places in New England), Gustav Mahler (Sinfonie Nr. 5 cis-Moll). Einführung: 19.15 Uhr, Ingo Metzmacher (Dirigent). Info: 0621/2 60 44.
Es ist eine Überwältigungsmusik, die uns deutlich spüren lässt: Da ist etwas, das größer ist als wir, das uns übersteigt und das wir nur innerlich zulassen müssen.
Größer als wir ist hier freilich auch das Spektakel, das vom Nationaltheaterorchester, dem Opern- und Extrachor der Mannheimer Oper (Alistair Lilley) samt Solisten und Generalmusikdirektor Roberto Rizzi Brignoli veranstaltet wird. 180 Menschen arbeiten auf der Bühne an diesem besonderen Moment, an dieser „Messa da Requiem“, in der sich der Opernkomponist und Spezialist für menschliche Makel und Abgründe eins zu eins widerspiegelt.
Und die dramatische Intensität und emotionale Tiefe trifft bei GMD Rizzi Brignoli natürlich auf offene Arme, entspricht doch gerade die Dramatisierung und Intensivierung von Klang seinem Naturell als Dirigent, was er nicht selten mit dynamischen, schnellen und bisweilen fast schon ungeduldig und nervös wirkenden Gesten forciert.
Das Nationaltheaterorchester: sehr kompakt und meist perfekt
So kommt das Werk also über uns wie ein übermenschlicher Tornado. Von den donnernden Pauken und Blechbläsern, den sturzbachartigen Piccoloflöten und Klarinetten, den bedrohlich aufsteigenden Posaunen im „Dies Irae“ bis hin zu den zarten, introspektiven Passagen im „Agnus Dei“ - Verdi nutzt das gesamte Spektrum musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten, um die Texte der Totenmesse zu illustrieren. Und wie das NTO das mit dem Riesenchor macht, ist kompakt und meistens perfekt.
Die zweichörige Doppelfuge im „Sanctus“ etwa mit ihrem mit großer Leichtigkeit hochschnellenden ersten F-Dur-Thema und der direkten Antwort aus Chor II gelingen dem NTO-Chor exemplarisch federnd und durchsichtig, was auch daran liegt, dass Rizzi Brignoli hier wirklich das Tempo anzieht und voll auf taktweise Schwingungen geht.
Mitunter entwickelt sich dieser dichte Satz zu einem verbal unverständlichen weil vielstimmigen Geplapper - zumal auch noch alle Instrumentengruppen nach und nach mit den Themen einsetzen. Aber nie geht die Transparenz verloren, fehlt das Licht zwischen den einzelnen Einsätzen.
Vieles, aber nicht alles gelingt dermaßen gut. Martin Muehle etwa, gesundheitlich etwas angeschlagen, den NTM-Fans noch aus seiner Mannheimer Zeit (2013-15) kennen, hat immer wieder Probleme vor allem mit den lyrischen Farben. Das ist im „Ingemisco Tanquam“ aus dem „Dies irae“-Teil so, wo er die zarten Farben der Flöten-, Oboen-, Klarinetten- und Fagottsoli nicht wirklich aufnehmen kann. Und das ist auch in den Ensembles so, wo sein mit luxuriösen Obertönen bestückter Tenor mitunter etwas angestrengt klingt und heraussticht - so im weitgehend als Terzett gestalteten „Lux aeterna“.
Erste Saison mit Roberto Rizzi Brignoli ist vorbei und gut gelaufen
Das sind nur kleine Abstriche, denen so etwas wie das - mit exquisiten kammermusikalischen Passagen musizierte und von Faylenbogen und Hovhannisyan zum Dahinschmelzen gesungene - „Agnus Dei“ gegenübersteht. Oder - nach dem kleinen Klarinettensolo - das fragile „morendo“ der Streicher am Ende des „Offertorio“. Man muss nicht an Gott glauben, um Gott zu spüren. Diese Stärke! Dieser Langmut! Diese Zuversicht!
Die erste Saison mit dem neuen GMD ist also schon vorbei. Auffällig ist bei Rizzi Brignoli, dass er in besonders großen Momenten mit Tutti und Fortissimo jetzt doch immer wieder sein Temperament etwas runterkühlt. Das tut der Kontrolle insgesamt gut. Sein Klang ist immer bewegt und geerdet, er lebt von innen heraus.
Was für ein Abend im Rosengarten, in dem die Menschen nach dem Pianissimo-C-Dur des Schlusses sofort aufstehen! Sogar der Ex-Chef des Chores, Dani Juris, ist aus Berlin angereist. Er klatscht emsig Beifall.
Am Dienstagabend wird das Konzert um 20 Uhr nochmals gegeben.
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