Ob Nathan wirklich der einzige Weise ist, wie Lessing ihn erdichtete, wird sich erst noch zeigen. Eher darf man vermuten, dass auf der Bühne im Alten Kino Franklin gleich mehrere Personen mit dem Anspruch „weise“ zu sein, auftreten. Denn was der Dramatiker und Regisseur Nuran David Calis dort für das Mannheimer Nationaltheater unter dem Titel „Nathan“ als Uraufführung herausbringt, hat nur noch wenig mit der Vorlage Lessings zu tun.
Die Figurenkonstellation und der Grundlauf seien übriggeblieben, den Rahmen habe er teilweise gesprengt, erklärt Calis in einem Gespräch und bezeichnet sein Vorgehen als eine „Neuüberschreibung“. Mit ihr aktualisiert er einen Stoff, der, so könnte man behaupten, schon deshalb nicht von den Spielplänen verschwindet, weil darin etwas zum Ausdruck kommt, das noch immer auf seine universelle Erfüllung wartet: Menschenliebe und Toleranz. An Lessings „Nathan“ kann man die Glaubwürdigkeit von Utopien überprüfen.
Eine Art Großstadtballade
Doch Nuran David Calis wollte keinen Klassiker inszenieren, sondern Lessings „Nathan“ in die Gegenwart holen. Also hat er frei nach Motiven des Dichters vor zwei Jahren begonnen, ein neues Stück zu schreiben, einen Krimi, eine Art Großstadtballade, in der die verschiedenen Identitäten unserer Einwanderungsgesellschaft aufeinandertreffen. Calis geht es dabei nicht nur um singuläre Ereignisse. Was er aus der Perspektive von Opfern rassistischer und antisemitischer Gewalt erzählt, soll mit Hilfe filmischer Mittel auf das heutige Deutschland übertragen werden.
Mit seinem „Nathan“ wollte Calis nicht nur das Gegenwärtige zulassen, sondern darüber hinaus die sprachlichen Barrieren des 1779 veröffentlichten und damals extrem angefeindeten Textes überwinden, um sich so mit Unterstützung des Heidelberger Rappers Toni-L auch an ein junges Publikum zu wenden. Dass zu diesem konsequenten Blick auf die komplexe Vielschichtigkeit der deutschen Einwanderungsgesellschaft neben existenziellen Überlebenskämpfen auch Träume und Sehnsüchte benachteiligter Gruppen gehören, versteht sich von selbst.
Hier, wo man häufig auf untereinander verfeindete ideologische Positionen und deren kulturelles Erbe trifft, will Calis, dessen Eltern aus der Türkei nach Deutschland immigrierten, mit seiner „migrantischen Stimme“ Stellung beziehen. Er habe eine Geschichte erzählen wollen, weil Geschichten für ihn zu den unverzichtbaren Voraussetzungen des Theaters gehören. Also beginnt er sein Stück mit einer Brandstiftung.
Theater-Regisseur und Filmautor
- Nuran David Calis, Sohn eines armenischen Gießereiarbeiters und einer jüdischen Reinigungskraft, beide aus der Türkei immigriert, beginnt nach dem Abitur ein Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule in München, das er 2000 abschließt.
- Während dieser Zeit arbeitet er als Assistent an den Münchener Kammerspielen und am Schauspielhaus Zürich. Sein erstes Theaterstück „Urbanstorys“ (2005) schreibt Calis zusammen mit Jugendlichen aus Hannover.
- Zahlreiche weitere Arbeiten für die Bühne folgen. 2006/2007 entsteht sein erstes Drehbuch, dessen Verfilmung 2008 unter dem Titel „Meine Mutter, mein Bruder und ich!“ in die Kinos kommt. Eine Neufassung von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ hat am Schauspiel Hannover großen Erfolg.
- Für seine Theaterarbeit erhält Nuran David Calis zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Dramatiker-Stipendium des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft und den Ludwig-Mühlheims-Theaterpreis.
Auf den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Nathan Grossmann, seine Stiefschwester Daja und seine Adoptivtochter Recha wird ein Anschlag verübt, den alle drei überleben. Antisemitische Parolen in arabischer Schrift an den Wänden der ausgebrannten Wohnung lenken den Verdacht der Polizei auf den sunnitischen Unternehmer Salatin Denktas, der als Architekt von Nathan Kredite in Anspruch nimmt für seine exponierten Projekte. Doch der BKA-Polizist Jonas (Lessings Tempelherr) zweifelt an dessen Schuld. Und je intensiver er sich mit dem Fall beschäftigt, desto tiefer verstrickt er sich in seine persönliche Vergangenheit.
Sein Stück sei der Versuch, einen zwischenmenschlichen Grundkonflikt auf heutige Zeiten und auf ein heutiges Bewusstsein zu übertragen, erklärt Calis. Es soll den Menschen mit seinen Widersprüchen konfrontieren, und zwar so, dass ihm die eigenen Vorurteile nicht im Wege stehen. In diesem Sinne begreift Calis seinen „Nathan“-Text als Projektionsfläche. Sie ermögliche es, vom künstlerischen Standpunkt aus hinter die Figuren zu blicken, um zu verstehen, warum sie so geworden sind, wie sie sind. Theater als erkennendes und visionäres Gedankenspiel.
Eine Umarmung zum Schluss
Im Unterschied zu dem Philosophen Peter Sloterdijk ist für Calis die Aufklärung nicht gescheitert. Sie sei nach wie vor aktuell, betont er, und sieht in ihr eine Einladung, ein Versprechen. Theater ist für ihn ein Ort der „sinnlichen Aufklärung“. Es könne einen entscheidenden Beitrag leisten, überlieferte Freund-Feind-Schemata zu durchbrechen. Deshalb wird es zum Schluss im Alten Kino Franklin auch die von Lessing erwünschte allseitige freundschaftliche Umarmung geben.
Mit ihr wird ein Theater-Abend beendet, der nach dem Willen des Regisseurs Calis „sanft, sensibel fragend dem Menschen zugewandt“ sein soll. Worte eines Idealisten, der sich nachdrücklich zu seiner Haltung bekennt und der Theater als „kritischen Begleiter“ verstanden wissen will, als einen „ästhetisch-politischen Raum“, der Idealisten benötige, vor und auch hinter der Bühne.
Und unvermutet beginnt Calis ein begeistertes Loblied auf Mannheim, auf diese „tolle Stadt“, deren Gegenwärtigkeit ihn auch in migrantischer und studentischer Hinsicht offenkundig mächtig imponiert. Dass ihm ihre von verschiedenen Nationalitäten „durchmischte Urbanität“ bewundernswert erscheint und ihn sogar zu einem Vergleich mit Wien verlockt, beweist nur, wie gründlich und aufmerksam er sich hier umgesehen hat.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-urauffuehrung-in-mannheim-nathan-als-moderne-grossstadtballade-_arid,2151124.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html