Am Ende wird hier alles zu einer Überwältigungsmaschinerie: Von einem einsamen Kontrabass ausgehend, sich über Cello, Bratsche und Fagott allmählich ausbreitend mündet dieser spannende Moment in Schillers und Beethovens berühmtes Bekenntnis, alle Menschen mögen doch bitte Brüder werden. Das Atrium der Kunsthalle Mannheim zittert unter den Stimmen des von den Emporen schmetternden Chores des Nationaltheaters, den der (ja leider scheidende) Chordirektor Dani Juris, direkt hinter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stehend, mitreißend dirigiert. Herzen klopfen. Gefühle sprudeln. Tränen fließen. Die Kunsthalle wird buchstäblich mit Emotion gerockt. Man soll ja mit Superlativen vorsichtig sein: Aber gab es je eine so bewegende, ja, mitreißende Schillerpreisverleihung!
Alles ist hier wie ein großes Emotionen-Crescendo angelegt. Auf die schon sehr gute Rede von Oberbürgermeister Peter Kurz folgt das herzliche und tiefgründige Lob des Bundespräsidenten und dann, gewissermaßen als Antipode zu Ernst und Erhabenheit des staatstragenden Amtes, kommt der Dank mit Schalk der zentralen Person: Emine Sevgi Özdamar, die hier mit dem Schillerpreis Mannheims ausgezeichnet wird und sich ins Goldene Buch der Stadt einträgt. Die Autorin und Schauspielerin – auf dem Parka, den sie trägt, steht bezeichnenderweise „Begin with a smile“ – tritt ans Rednerpult, raschelt zunächst mit und sucht in ihren Blättern nach Anfang und Ende, setzt die Brille auf und legt los. Sie fackelt ein aphoristisches Feuerwerk ab. Darin spricht sie nicht nur Deutsch und Türkisch, sondern singt auch ein türkisches Lied – tief, melancholisch und mit den leidenschaftlichen Vierteltönen orientalischer Musik gespickt. Als sie fertig ist, sagt sie: „Dann weinte ich.“ Szenenapplaus. Sie hat von einem dieser Abende mit ihrem Bruder Ali erzählt, an dem sie sich trafen – um zuerst zu lachen, dann zu weinen.
Von Atatürk zu „Wilhelm Tell“
Özdamars Rede ist so heterogen und vielfältig wie ihre Literatur selbst. Scheinbar nicht zusammengehörige Elemente, die kaleidoskopartig und bunt flackern, fügen sich dabei wie durch Wunder zu einem Ganzen, zu Sinn, zu Narration, und wie sie das alles synthetisiert, ist witzig, selbstironisch und plastisch greifbar. Sie erzählt vom Hut ihres Vaters, den er jeden Morgen vor dem Spiegel aufsetzte. Es war ein Borsalino, der in der Türkei plötzlich Mode wurde, weil Atatürk einen hatte und damit die Europäisierung vorantreiben wollte. Özdamar schwingt sich vom Hut Atatürks und ihres Vaters direkt hinüber zu Schiller und zu Gessler, vor dem „ihr Held“ Wilhelm Tell eben den Hut nicht ziehen wollte. Die berühmte Passage „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“ liest Özdamar aus ihrem zerfledderten Jugendbuch auf Türkisch vor und zeigt lebendig und mit einem Hauch Rührung, was ihr Laudator Steinmeier zuvor schon eindrücklich gesagt hatte: „Heimat gibt es auch im Plural!“ Dass Steinmeier für solche Sätze in einer der offensten Stadtgesellschaften des Landes, Mannheim, spontan Applaus erntet, versteht sich fast von selbst. Doch seine Laudatio ist gespickt von solchen aktuellen Weisheiten.
Natürlich spricht der Bundespräsident über das Einwanderungsland Deutschland und meint: „Heute sind wir nicht ein Land, in dem Menschen mit Migrationshintergrund leben. Nein, wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.“ Steinmeier spricht im Zusammenhang mit den Heimaten, einem Begriff, der sich „mit Gefühlen, Erinnerung und Vertrautheit verbindet, mit Orten und Menschen, mit Gerüchen, Essen und der Sprache“, auch über die Tatsache, dass Özdamar in der für sie zunächst fremden Sprache Deutsch schreibt. Steinmeier kennt Özdamars Schaffen offenbar gut. Er nennt ihren Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ ein „fulminantes Erinnerungswerk“, schwärmt von der „funkelnden, poetischen, traurigen und sehr komischen“ Sprache Özdamars, die überbordend sei. Steinmeier: „Sie wohnen in der deutschen Sprache und das so meisterhaft wie nur wenige, deren Muttersprache Deutsch ist.“ Steinmeier rezitiert gekonnt, teils nachdenklich, lapidar und unprätentiös, sein Sound ist immer tief, ehrlich, und wenn er diesen Satz von Max Frisch über die nach dem Zweiten Weltkrieg angeheuerten Gastarbeiter sagt, wirkt die Stimme ostentativ unpathetisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“
Schon zuvor erinnert OB Kurz daran, dass das respektvolle Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Nationen quasi „der genetische Code“ Mannheims sei, bei dessen Stadtgründung 1607 Deutsch nicht die Mehrheitssprache war. Kunst und ästhetische Bildung begriffen sich „als gesellschaftlicher Gestaltungsfaktor“ für eine offene, tolerante, urbane und internationale Stadt – die einst ja auch den aus Württemberg kommenden Flüchtling Schiller aufnahm und seinen Ruhm mitbegründete. Die Würdigung Özdamars mit dem Schillerpreis mache die Bezüge zu Namensgeber und Preis besonders sinnfällig, sagt der OB bei seiner letzten Schillerpreisverleihung als Stadtoberhaupt.
Özdamar, die Anfang November bereits den mit 50 000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis erhalten hatte, ist Kosmopolitin und lebt in der Türkei und in Berlin. Zu ihren bekanntesten Büchern gehört der Roman „Das Leben ist eine Karawanserei: hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“. 1991 erhielt sie als erste Nicht-Muttersprachlerin den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr jüngstes Werk „Ein von Schatten begrenzter Raum“ erschien 2021 und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Was für eine Autorin! Was für eine Preisverleihung! Europa kann solche Menschen und Werke gut gebrauchen. Beethovens Hymne schreit danach. Die Überwältigung hält an.
Schillerpreis
Der Preis: Nach der Satzung kommen als Preisträger Persönlichkeiten in Betracht, die durch ihr gesamtes Schaffen oder ein einzelnes Werk von bedeutsamem Rang zur kulturellen Entwicklung in hervorragender Weise beigetragen haben. Zu den Preisträgern gehören seit 1954 Menschen wie Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke oder Alfred Grosser.
Özdamars jüngster Roman: „Ein von Schatten begrenzter Raum“ (Roman, 2021. Suhrkamp. 763 Seiten, 28 Euro).
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