Schauspiel

Theater Heidelberg lässt alte Dame den Wilden Westen besuchen

Eine Millardärin zeigt sich großzügig: eine Milliarde will sie ihrer alten Heimatgemeinde spenden, wenn einer stirbt... Den Weg zum Kopfgeld zeigt Friedrich Dürrenmatt in "Der Besuch der alten Dame" - in Heidelberg war Premiere

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Dick aufgetragen doch eindringlich: Krokodillack auf Schuluniform. Christina Rubruck (links als Milliardärin Claire Zachanassian) und Sheila Eckhardt (als ihr jugendliches Alter Ego Kläri Wäscher) auf der Bühne des Marguerre-Saals. © Reichardt

Wie weit sind wir bereit zu gehen? Das ist DIE Frage in Friedrich Dürrenmatts berühmtem Stück, das in der deutschsprachigen Welt einen festen Platz auf Lehr- und Spielplänen hat; nun auch wieder am Theater Heidelberg.

Was machen wir für Geld?

Noch konkreter muss die Frage heißen: Was tun wir für Geld? Die Antwort war Dürrenmatt schon vor der Premiere - sie fand 1956 mit Therese Giehse in der Titelrolle in Zürich statt- ebenso bekannt wie sie der alten Dame (in Heidelberg sind es in Duo-Besetzung Christina Rubruck und Sheila Eckhardt) und auch dem Publikum bekannt ist. Lauten muss die traurige Antwort: Alles.

Dramatiker und Mathe-Lehrer

Interessanter als die Antwort selbst ist der Weg dahin. Wäre man Mathematiklehrer, man müsste sozusagen den brillanten Rechenweg des klugen Dramatikers zu einem eigentlich falschen Ergebnis mit Sonderpunkten belohnen. In den 1950er Jahren zu zeigen, was alles zugedeckt, verschleiert, übersehen, ignoriert werden und unausgesprochen bleiben muss, damit das Wirtschaftswunder wahrwerden kann, war Anliegen seiner „tragischen Komödie“. Das funktioniert heute noch ebenso glänzend, wie ein gegenwärtiger Blick auf Gas- und Fußballfelder zeigt - der Dichter kennt sie eben die Menschen. Regisseur Alexander Charim spart sich diese zu nahe liegende Aktualisierung, das Stück ist gut genug, dem Zuschauer die Parallelen auch so offenzulegen.

Drehbühne des Wilden Westens

Auf Ivan Bazaks (Bühne) und Aurel Lenferts (Kostüme) ein wenig irritierendes Westernkolorit hätte Charim daher auch verzichten können. Dass es hier um den „Wilden Westen“ geht (haha) haben wir verstanden. Immerhin bietet der kaschierte Bau mit großer Freitreppe auf der Drehbühne gute Auftrittsmöglichkeiten bei den großen Ensembleszenen. Über das verarmte Güllen in leuchtenden Lettern „Wellness“ zu hängen, ist purer Sarkasmus. Hier fühlte sich nie jemand wohl, nicht einmal, als die Fabrikschlote noch rauchten und der Rubel noch rollte.

Die alte Dame und das Mädchen

Als wesentlich gewinnbringender erweist sich da die Idee des Teams - zugegeben man selbst war im Vorfeld skeptisch - Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ mit Texten aus „Erinnerung eines Mädchens“ von Annie Ernaux zu verknüpfen. Wir erfahren gleich in der ersten Szene ihre Geschichte von Scham, sexuellem Erwachen und Armut, die in der Tat auch zu Claire Zachanassians Jugend passen. Das Gefühl, gedemütigt, ausgeliefert, übervorteilt und machtlos zu sein, das so plastisch aus Ernaux-Texten quillt und hier in die Szenen einfließt, füttert die Figur Claires auf, macht plausibel, wie sie einst als Kläri Wäscher schwanger, vor Gericht betrogen, entehrt und verachtet aus dem Dorf ging: „Ich wurde eine Hure. Das Urteil machte mich dazu.“

Ein Ureteil und seine Folgen

45 Jahre und acht Ehemänner später kommt sie bekanntlich zurück, um eine Milliarde Kopfgeld auf ihren einstigen Geliebten auszusetzen, buchstäblich „Konjunktur für eine Leiche“ zu bieten und zuzusehen wie die Güllener der schwarze Panther der Gier und Angst umschleicht. Mit kristallklarer Gedankenschärfe hat Dürrenmatt die stets aktuellen und gesellschaftlich notwendigen Moralverdrehungen herausgearbeitet, die es braucht, um Menschenleben für Wirtschaft und Wohlergehen, also Geld zu opfern. Der Staat, hier der Bürgermeister (Hendrik Richter) und Polizist (Jonah Moritz Quast), die Kirche (Pfarrerin: Nicole Averkamp), die Wissenschaft (Lehrer: Leon Maria Spiegelberg) drehen und wenden ihr demokratisches und humanistisches Gerüst, bis es am Ende besser funktioniert als Claires gut geölte Prothesen und Kassenscharniere.

Die Lösung: „Tod durch Freude“

Marco Albrecht spielt den einstigen Übeltäter Ill zunächst jovial, zum Ende hin aber immer stiller und größer, bis er - heute würde man vermutlich das Unwort „sozialverträglich“ verwenden - für Presse und Öffentlichkeit den „Tod aus Freude“ durch „Herzschlag“ stirbt. Schade nur, dass die verbalen Auseinandersetzungen der Paarbegegnungen allesamt plump körperlich unterlegt sind: ohn’ Unterlass wird regiegemäß gekniet, gerauft, geschüttelt und gerungen.

Die Stars des Abends

Christina Rubruck hat freilich selbst im Flatterkleid die Hosen an, gibt ihre Claire undamenhaft derbe, desillusioniert - diese Rache ist nicht süß, sondern nur noch bitter. Sheila Eckhardt muss zwar albern als Panther herumkrauchen, ist aber mit ihren Ernaux-Texten fraglos der umtriebige Star eines durchaus spannenden, ansonsten aber auf hohem Niveau unspektakulären Abends, dem der Verzicht auf einige Überdeutlichkeiten gut getan hätte. Herzlicher Applaus für alle Beteiligten.

Der Regisseur

Alexander Charim, geboren 1981 in Wien, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität seiner Heimatstadt. Als Regieassistent und Hospitant sammelte er am Burgtheater Wien und an der Wiener Staatsoper erste Theatererfahrung, u. a. bei Luc Bondy und Peter Zadek.

2003 bis 2007 studierte er Regie an der Hochschule „Ernst BuschBerlin, seine Diplominszenierung „Liebe“ wurde 2007 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Seitdem arbeitet er als freier Regisseur für Schauspiel und Musiktheater.

„Der Besuch der alten Dame“ ist nach „Peer Gynt“ und „Ödipus“ seine dritte Heidelberger Inszenierung. Weitere Termine: 26. November sowie am 1., 2., 4. und 11. Dezember, Karten: 06221/58 20 000. rcl

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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