Literatur - Frank Witzel erkundet in „Inniger Schiffbruch“ mit langsamem und packendem Tempo eine deutsche Familie

Stilles Familiendrama mit Wucht

Von 
Holger Schlodder
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Weiß von einer deutschen Familie zu erzählen: Autor Frank Witzel. © Arne Dedert/dpa

Das Foto von seiner Erstkommunion zeigt den Jungen im Anzug mit schwarzer Fliege am Ende einer Kaffeetafel sitzend – mit seltsam abwesendem Blick. Scheinbar im Mittelpunkt des Geschehens stehend, ist er doch nur Statist in der Inszenierung der Erwachsenen.

Die arrangierte Aufnahme steht emblematisch für diese Kindheit in einem durchschnittsbürgerlichen Haushalt der westdeutschen Nachkriegsjahre. Von außen gesehen ist es eine behütete Kindheit. Der Wohlstand wächst kontinuierlich, es herrscht kein Mangel – es sei denn an vorbehaltlos geschenkter Elternliebe. An deren Stelle steht die unausgesprochene Erwartung, dass der Erstgeborene (nach ein paar Jahren kommt noch ein Bruder hinzu) seine Eltern für etwas entschädigen soll, das er nicht kennt und das er nicht verursacht hat. Erst als sie hochbetagt sterben, vermag der Erzähler dieses stille Familiendrama in seiner ganzen Tragweite zu überschauen und die Verluste zu benennen, die auf ihn übertragen wurden.

Entsagung mit Auswirkung

Im Fall der Mutter war es die Vertreibung aus der schlesischen Heimat, die in der Familie mehr beschwiegen als bewältigt wurde. Was in der tüchtig-züchtigen Hausfrau und Mutter vorgegangen sein mag, bleibt für den Erzähler bis zum Schluss eine beunruhigende Leerstelle in seiner Erinnerung.

Präsenter ist da schon das Vorleben des Vaters, auch dank eines hinterlassenen Konvoluts autobiografischer Aufzeichnungen. Dem Volkssturm gerade noch entkommen, strebt er eine Karriere als Musiker und Komponist in der Nachfolge von Hindemith und Strawinsky an. Als die Geburt des Erzählers sich ankündigt, gerät er in einen schweren Konflikt: Künstlerlaufbahn oder Familienpflichten. Nicht ohne zeitlebens damit zu hadern, opfert er dem Familienleben seine Ambitionen, wird Gymnasiallehrer und betreibt die Musik nur noch nebenberuflich, als Kirchenmusiker.

Man ahnt, dass solche Entsagung nicht ohne Auswirkungen auf den Erstgeborenen bleibt. Wie er auch das mütterliche Vertreibungstrauma mitzutragen hat. Dieses wird in subtiler Grausamkeit immer wieder neu inszeniert, wenn man ihm bei jeder Aufsässigkeit damit droht, ihn in ein Internat zu geben. Nein, eine erbauliche Lektüre ist dieser Familienroman nicht. Eher eine literarisch nachgestellte Psychoanalyse: assoziativ changierend zwischen Bericht, Erinnerung und Traumprotokoll. Das Ergebnis ist aber kein heilsamer Prozess, sondern ein qualvoller Exorzismus: Der Erzähler macht sich als Schreibkraft zum Archivar einer Vergangenheit, die er ergründen und gleichzeitig auch für sich überwinden will. Was ihn immer tiefer in Widersprüche und Paradoxien verwickelt und jenen „innigen Schiffbruch“ erleiden lässt, der (in Anlehnung an ein Gedicht von Leopardi) dem Roman seinen Titel gibt.

So sehr er dabei an seiner Eignung zum Schriftsteller zweifelt – als Gescheiterter weiß er sich in guter Gesellschaft und ruft wiederholt seine Gewährsleute auf: Adorno, Thomas Bernhard, Imre Kertész, Schuberts „Winterreise“. Diese Anklänge haben etwas Beschwörendes: Als könnte der bildungsbürgerliche Kanon Zuflucht gewähren vor den familiären Zumutungen. Immerhin vermag der Bezug auf diese Referenzgrößen die eigene Misere in einen größeren Leidenszusammenhang zu stellen.

In diesem Sinn ist dann auch diese sehr private Geschichte ein Kapitel der west-deutschen Mentalitätsgeschichte, der sich Frank Witzel in seinen letzten Romanen verschrieben hat. „Inniger Schiffbruch“ ist dabei weit weniger spielerisch angelegt als der mit übermütigem Witz durch die Diskurse von Pop, Politik und Psychoanalyse mäandernde Großroman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Wer noch dessen Vielstimmigkeit im Ohr hat, muss sich hier an einen spröderen Ton und ein stark zurückgenommenes Erzähltempo gewöhnen. Und kann dennoch gepackt werden von dieser Geschichte über die kollektiven Erblasten, die der Gründungsgeneration der Bundesrepublik mitgegeben wurden.

Frank Witzel

  • Die Anfänge: Frank Witzel 1955 in Wiesbaden geboren, will eigentlich Musiker werden – Klavier, Cello und klassische Gitarre. Aber als junger Erwachsener schreibt er auch Gedichte. Erst 2001, Witzel ist 46, erscheint sein erster Roman „Bluemoon Baby“. 2003 folgt „Revolution und Heimarbeit“, mit dessen grotesken Ereignissen, Handlungssträngen und Komplexität er von manchen in die Nähe von US-Schriftsteller Thomas Pynchon gerückt wurde.
  • Die großen Romane: Es folgt „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhält. Für das gleichnamige Hörspiel gewinnt Witzel den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman „Direkt danach und kurz davor“ ist er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert.
  • Die Poetikdozentur: 2017 wird er Poetikdozent der Universität Heidelberg, 2018 folgt die Poetikdozentur in Tübingen. 2017/2018 ist er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt.
  • Das neue Buch: „Inniger Schiffbruch“. Roman. Matthes & Seitz, Berlin. 360 Seiten, 25 Euro. (dms)

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