Literatur - Nach den Bucherfolgen Elena Ferrantes erscheint auch ihr Debütroman erneut auf Deutsch

Spurensuche einer Tochter

Von 
Jeanette Stickler
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Blick auf Häuser im Rione Luzzatti in Neapel. Es wird angenommen, dass die italienische Autorin Elena Ferrante das Leben der Romanhelden hier verortet. © dpa

Um das Ferrante-Fieber auch nach Abschluss der Neapel-Tetralogie am Glimmen zu halten oder gar neu zu entfachen, legt der Suhrkamp Verlag jetzt nach. Die Kohlen freilich wurden schon einmal angewärmt: „Lästige Liebe“, Elena Ferrantes Romandebüt aus dem Jahr 1992, erschien auf dem deutschen Buchmarkt bereits 2005 im List Verlag, unter weitgehender Missachtung durch Kritik und Leserschaft. Karin Krieger, die bereits die Geschichte um die beiden Freundinnen Elena und Lila fabelhaft übersetzt hat, zeichnet auch für diesen Roman verantwortlich.

Und wir kehren wieder nach Neapel zurück. Eingeschworene Ferrante-Leser kennen bereits das Chaos, den Dreck, den Mief der Stadt, die Armut und auch die Hässlichkeit. Delia, die dort aufgewachsen ist und inzwischen in Rom als Comiczeichnerin lebt, hat eine traurige Pflicht zu erfüllen, weshalb sie die Stadt ihrer Kindheit und ihrer Erinnerungen mit Widerwillen aufsucht. Sie muss ihre Mutter Amalia beerdigen, die unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Die Mutter, die eigentlich auf dem Weg war zu ihrer Tochter nach Rom, wurde am Ufer eines Badeortes gefunden: lediglich mit einem BH bekleidet.

Überdauerndes Lügengeflecht

Die italienische Schriftstellerin, die ein Geheimnis um ihre Person macht, ist grundsätzlich nur zu schriftlichen Interviews bereit. In einem der raren Exemplare heißt es: „Dort, wo die Geschichte wirklich beginnt, platziere ich gern einen weitreichenden Satz, der eine kalte Oberfläche hat und, darunter sichtbar werdend, ein Magma von unerträglicher Hitze.“ Das ist eine ziemlich präzise Beschreibung des Satzes, mit dem der Roman anhebt. „Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, an meinem Geburtstag, im Meer vor einem Ort namens Spaccavento, wenige Kilometer von Minturno entfernt.“

Was nun folgt, ist eine Spurensuche der Tochter. Das Ziel ist unklar, aber in jedem Falle von größter Brisanz. Dabei handelt es sich hierbei keineswegs um einen Krimi. Es geht Elena Ferrante nicht darum, einen möglichen Täter zu finden, der verantwortlich wäre für den Tod Amalias. Vielmehr spürt sie Delias Erinnerungen nach, die sich allzu oft als falsch erweisen. Der Schein trügt. Nichts ist wie erwartet. Es ist ein anstrengender, mitunter schwer erträglicher Prozess. „Die Kindheit“, so heißt es im Roman einmal, „ist eine Fabrik von Lügen, die in der Vergangenheitsform fortdauern …“

Auf diesem verwirrenden und verstörenden Weg an die Stätten von Delias Kindheit und die nicht weniger irritierenden Begegnungen mit den einst vertrauten Personen, bleibt manches im Ungewissen und Ungefähren.

Schillernd und zweideutig sind nicht nur die Figuren, vor allem der Vater, ein verkrachter Maler und von der Familie seit mehr als zwei Jahrzehnten getrennt, der seiner Tochter entgegenschleudert: „Du warst schon als Kind zum Kotzen.“

Verwahrlost und verkommen versucht er, mit kitschigen Porträts von Zigeunerinnen Geld zu verdienen. Aber hat ihm nicht einstmals seine Frau Amalia Modell gestanden? Und der nicht mehr junge Mann, dem Delia in einem Dessousgeschäft auf unangenehme Weise begegnet und mit dem sie wenig später in einem Hotelbett landet, ist er nicht ihr Spielkamerad aus Kindheitstagen? Und dessen gepflegter, gut angezogener Vater Caserta? Welche Rolle spielt er in diesem Vexierspiel, in dem auf nichts und niemand Verlass zu sein scheint. Auch nicht zu Lebzeiten auf die Mutter, das wird immer deutlicher: „Aber während ich kräftig mein Gesicht abrieb …, wurde mir mit unerwarteter Zärtlichkeit bewusst, dass mir Amalia unter der Haut saß wie eine warme Flüssigkeit, die mir irgendwann injiziert worden ist.“

Erinnerungen überlagern sich

Die Bilder der Erinnerung überlagern sich, formen sich neu: Was war wirklich vor 40 Jahren? Sie sorgen nicht nur bei Ferrantes Ich-Erzählerin Delia für Verwirrung und Verstörung – der Leserin, dem Leser ergeht es kaum anders in diesem beunruhigenden Mutter-Tochter-Drama.

„Lästige Liebe“ ist längst nicht so süffig zu lesen wie die vier Bände über die beiden Freundinnen. In ihnen konnte man sich gemütlich einrichten, sich mittragen lassen von den Nöten und Konflikten und den eher seltenen Glückssträhnen. Hier, in diesem beachtenswerten Debüt der italienischen Schriftstellerin, stößt man gegen Widerstände und Widersprüche. Aufgeklärt wird hier kaum etwas.

Geheimnisvolle Autorin

Elena Ferrante ist ein Pseudonym, das sich die italienische Schriftstellerin bereits für Ihr Debüt zugelegt hat. Es gibt Spekulationen, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. Anita Raja, die italienische Übersetzerin von Christa Wolf, dementierte, die geheimnisvolle Autorin zu sein, wie auch die Geschichtswissenschaftlerin Marcello Marma.

Wer mehr über das Schreiben einer der erfolgreichsten Autorinnen der letzten Jahrzehnte erfahren möchte, muss sich bis Februar gedulden: Dann erscheint ein aus Briefen, Interviews und Aufsätzen zusammengesetztes Mosaik als eine Art Selbstporträt der Autorin mit dem Titel „Frantumaglia“.

Ein literarisches Schmankerl gibt’s schon Ende Oktober. „Der Strand bei Nacht“ erzählt die berührende Geschichte einer am Strand vergessenen Puppe, der im Laufe einer Nacht schreckliches Unheil widerfährt. Mara Cerri hat den Band der Insel-Bücherei illustriert.

Elena Ferrante: „Lästige Liebe“. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, 206 Seiten, 22 Euro. sti

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