Journal - In Berlin wird ein Gedicht übermalt – der Vorwurf: Sexismus / Jury des Alice-Salomon-Preises zurückgetreten

So frei muss Kunst sein dürfen

Von 
Wolfgang Bager
Lesedauer: 
Der Senat der Alice-Salomon-Hochschule befand das spanische Gedicht für sexistisch – und ordnete die Übermalung an. © Dolch

Eine Hochschule lässt zu Pinsel und Farbe greifen, um ein Gedicht zu übermalen, das seit Jahren an ihrer Fassade prangt. Angebracht 2011, um einen Dichter zu ehren, der gerade mit dem Alice-Salomon-Poetik-Preis ausgezeichnet wurde. Ist Eugen Gomringer, der in Berlin lebende schweizerisch-bolivianische Dichter, in Ungnade gefallen oder warum wird sein Werk nun entfernt wie schäbige Graffiti? Das Gedicht „Avenidas“ sei sexistisch, gibt der Akademische Senat der Alice-Salomon-Hochschule zur Begründung an.

Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer

Das ist, auf Deutsch, das ganze Gedicht, so wie es in spanischer Sprache an der Hauswand zu lesen ist. Da findet sich zarte Poetik plötzlich wieder inmitten einer aufgeheizten Sexismus-Debatte. Vorausgegangen war die Empörung amerikanischer Schauspielerinnen, die die Übergriffe von Regisseur Harvey Weinstein und anderen an die Öffentlichkeit brachten und die Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung ebenso wie Missbrauch und Vergewaltigung in der Filmbranche anklagten. Mit all dem hat Eugen Gomringer aber nichts zu tun.

Bewunderer, nicht Verächter

Vielmehr gibt sich der 92-Jährige, beziehungsweise das lyrische Ich, in dem Gedicht als Bewunderer zu erkennen – als ein Bewunderer des Schönen, des Perfekten, ein Bewunderer der Frauen. Kein zynischer Verächter.

Ach, wären sie doch alle nur Bewunderer gewesen, die Weinsteins und Wedels dieser Welt. Wie dem auch sei. Der Gomringer muss weg. Und so wird die weiße Wand an der Nelly-Sachs-Straße in Berlin zum Menetekel für eine Gesellschaft, die allzu gerne der Überspitzung, der lauten Übertreibung, des schnellen Schwarz-Weiß-Denkens anheimfällt. Da wird ein Missstand aufgedeckt – und die Empörung medial vermarktet. Berichte über grauenvolle Übergriffe stoßen eine notwendige und längst überfällige Debatte an – doch die mediale Aufregung verselbstständigt sich.

Akteure, Begebenheiten, Gedichte gar, die absolut nichts mit den mutmaßlichen Übergriffen zu tun haben, sind plötzlich Teil einer Diskussion, die droht, von Ideologen vereinnahmt zu werden: Militante Feministinnen blasen zum Angriff, reaktionäre Männerstammtische halten dagegen, alles wird in einen Topf geworfen. Das argumentativ-begriffliche Chaos ist perfekt, die große Stunde populistischer oder ideologischer Vereinfacher hat geschlagen.

Schon ist von einer neuen Prüderie die Rede, vom Rückschritt in voremanzipatorische Zeiten. Die mühsam erkämpfte Liberalität, die Ansätze weitgehend errungener Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der Geschlechter sowie der sexuellen Orientierungen stehen auf dem Spiel. Dem Anschlag auf die Würde der Frau folgt der Gegenschlag auf die Würde des Dichters, wenn seine Poesie mit der Farbrolle einfach weggewalzt wird.

Dann müsste viel übermalt werden

Müssen nun die Werke des Minnesangs, der Klassik oder der Romantik vernichtet werden, wenn darin Frauen von Männern besungen, idealisiert oder verehrt werden? Mit ähnlichen Begründungen zerstörten islamistische Eiferer unwiederbringlich Kunstschätze in Syrien. Muss die Kunst auf die Darstellung menschlicher Körper verzichten, weil in der Verklärung des Schönen auch immer die Diskriminierung des weniger Schönen anklingt und der Betrachter in die Rolle des Voyeurs gedrängt wird? Ist Ästhetik nur eine oberflächliche Vergötzung von Äußerlichkeiten? Sollen filmische Meisterwerke, wie jetzt gefordert, aus den Kinos verbannt werden, weil Regisseure wie Alfred Hitchcock, Roman Polanski, Woody Allen und andere ihre Macht und von ihnen abhängigen Frauen missbraucht haben?

Es wäre schlimm, wenn im Nachgang zu den beklagten Übergriffen eines Harvey Weinstein oder eines Dieter Wedel auch die freie aufgeklärte Gesellschaft Schaden nimmt. In Berlin ist das bereits geschehen.

Der angesehene Alice-Salomon-Preis für Poetik, benannt nach der gleichnamigen Frauenrechtlerin (1872-1948), ist tot. Die Gesellschaft, die ihn vergibt, ist aufgelöst, die Jury zurückgetreten. Und die lange Reihe verdienter Preisträger sieht ihre Auszeichnung beschädigt. Die notwendige Sensibilisierung der Öffentlichkeit für eine noch immer extrem asymmetrische Hierarchie zwischen Mann und Frau im Berufsleben und eine allfällige Gleichstellungsdebatte geraten in Gefahr. Übergriffe, überall Übergriffe.

Freier Autor Wolfgang Bager ist freier Kulturjournalist und lebt in Berlin. Nach abgeschlossener Buchhandelslehre in Villingen-Schwenningen und Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg (Magister) hat er beim Südkurier in Konstanz seine journalistische Ausbildung absolviert, war dort Redakteur in der Politikredaktion und von 1993 bis zu seinem Ruhestand 2015 Leiter der Kulturredaktion. Seit 2016 berichtet er als freier Journalist für den Mannheimer Morgen und den Südkurier Konstanz über kulturpolitische Themen aus Berlin.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen