Kultur - Sieben Berliner Institutionen starten ein Corona-Pilotprojekt mit Publikum / Jeder zweite Sitzplatz bleibt frei, und Zuschauer brauchen einen aktuellen Schnelltest

Sie wollen doch nur spielen

Von 
Wolfgang Bager
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Es wurde endlich wieder gespielt im Berliner Ensemble. © J. Kalaene/ dpa

Fast wirkt er wie eine bewohnte Insel in der sonst am Abend so menschenleer gewordenen Hauptstadt: der Bertolt-Brecht-Platz vor dem Berliner Ensemble (BE), in dem in einer halben Stunde tatsächlich eine Aufführung von Benjamin Stuckrad-Barres „Panikherz“ vor Publikum stattfinden soll. Nach langer Zwangspause ist es hier nun wieder möglich, Theaterluft zu schnuppern. Gereinigte Theaterluft, wie später Intendant Oliver Reese mitteilen kann.

Denn alle 20 Minuten wird die Luft im Zuschauerraum komplett ausgetauscht. „Theater sind sichere Orte“, wird Reese ausrufen und sich auf eine Studie des Fraunhofer Instituts berufen, die auch für Luftmessungen im Mannheimer Rosengarten kürzlich erfolgreich zurate gezogen wurde.

Aber noch stehen am Samstag Theatergänger vor dem BE in der frischen Berliner Luft. Auch wenn die Zuschauerzahl von 700 auf 350 halbiert und getrennte Zugänge zu den verschiedenen Platzkategorien eingerichtet wurden, zieht sich das bei 1,50 Meter Abstand in die Länge. Die, die hier warten, haben sich nicht nur innerhalb von vier Minuten im Netz Eintrittskarten gesichert, sondern auch einen aktuellen negativen Schnelltest in der Tasche, ohne den hier niemand reinkommt.

Dank der ausgefeilten Zugangsregeln herrscht kein Gedränge im Foyer. Oliver Reese kommt auf die Bühne und erzählt von diesem Pilotprojekt, das die Vorstellung erst möglich macht. Sechs Wochen hat die Kulturverwaltung an der Ausgestaltung getüftelt. Beteiligt an dem Versuch sind bis zum 4. April neben dem BE die Berliner Philharmonie, das Konzerthaus, die Deutsche Oper, die Staatsoper und die Volksbühne, ein Club sowie das Reiseportal „Visit Berlin“.

Nun geht es aber los. Richtige Musiker und leibhaftige Schauspieler betreten die Bühne. Nach gefühlten Jahrzehnten erleben die Zuschauer das Uralt-Medium Theater wie neu. Es sind nicht nur die FFP2-Masken, die manchen im Saal den Atem stocken lassen. Oliver Reese wusste schon, warum er mit „Panikherz“ von Benjamin von Stuckrad-Barre in dieses Projekt geht. Die Dramatisierung eines Bestsellers, in dem Aufstieg und Absturz des Autors autobiografisch erzählt wird, hat alles, was dem Theater an Wirkungserzeugung zur Verfügung steht.

Halb Tragödie, halb Musical, voyeuristische Einblicke in die Selbstzerstörung eines Suchtkranken, Gesangseinlagen, hervorragende Schauspieler und eine Hommage an Udo Lindenberg – da kann nichts schiefgehen. Schon gar nicht, wenn dem Publikum nach langem Entzug endlich wieder etwas von dem begehrten Stoff angeboten wird. Im seligen Rausch sieht man dann gerne darüber hinweg, dass die Ware vielleicht etwas gestreckt sein könnte.

Gehen die Lichter wieder aus?

Um so ernüchternder mag das ehrgeizige Testprojekt vielleicht aber wieder enden, bevor es richtig begonnen hat. Ausgerechnet am Starttag lag die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin wieder über 100, Tendenz steigend. Nach der von der Ministerpräsidenten-Konferenz beschlossenen Notbremse könnten in wenigen Tagen die Lichter schnell wieder ausgehen. Ganz gleich, wie oft die Luft im Saal getauscht wird, in Mannheim oder Berlin.

Freier Autor Wolfgang Bager ist freier Kulturjournalist und lebt in Berlin. Nach abgeschlossener Buchhandelslehre in Villingen-Schwenningen und Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg (Magister) hat er beim Südkurier in Konstanz seine journalistische Ausbildung absolviert, war dort Redakteur in der Politikredaktion und von 1993 bis zu seinem Ruhestand 2015 Leiter der Kulturredaktion. Seit 2016 berichtet er als freier Journalist für den Mannheimer Morgen und den Südkurier Konstanz über kulturpolitische Themen aus Berlin.

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