Literatur

Schillerrede eines Nobelpreisträgers in Marbach

Aus dem Werk des deutschen Klassikers blieb Abdulrazak Gurnah weniger das Revolutionäre in Erinnerung - es war ein Liebesgedicht

Von 
Manfred Loimeier
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Abdulrazak Gurnah bei der Schillerrede in Marbach. © Manfred Loimeier

Der Literaturnobelpreisträger von 2021, Abdulrazak Gurnah, hielt die Schillerrede dieses Jahres am Sonntag in Marbach am Neckar als sehr persönliche Note. Ausgehend von den Traumata der Revolution 1964 auf der Insel Sansibar im Indischen Ozean, wo Gurnah 1948 geboren wurde, beschrieb er anschaulich die Ausweisung der bis dahin britischen Lehrer an den Schulen und ihren Austausch gegen sowjettreue Pädagogen aus Kuba, Ghana, Nordkorea, der Tschechoslowakei und der DDR durch die neuen Machthaber.

Mit der DDR kamen auch Sicherheitsexperten sowie eine repräsentative Bibliothek mit Klassikern der revolutionären deutschsprachigen Literatur, darunter Friedrich Schiller als Autor des Widerstands gegen Feudalismus.

Was Gurnah von Schillers Literatur indes am meisten beeindruckte, war weniger der revolutionäre Gestus, sondern ein Liebesgedicht, nämlich „Das Geheimnis“. Und dieses Gedicht, das Gurnah mit 15 Jahren las, blieb ihm zeitlebens in Erinnerung.

Zärtlichkeit gegen Brutalität

„Memory of Departure“, Erinnerung an eine Abreise, hieß dann 1987 Gurnahs erster Roman, und seit damals beabsichtigte Gurnah, so der Nobelpreisträger in seiner Marbacher Rede, einen Roman zu schreiben über die deutsche Kolonialvergangenheit in Ostafrika. Dazu kam ihm Jahrzehnte später Schillers Gedicht wieder in den Sinn, und mit diesem setzte Gurnah in seinem jüngsten Roman „Nachleben“ einen bemerkenswerten Kontrapunkt zwischen Zärtlichkeit und Brutalität.

Denn von seinem „Großvater“, dem Onkel seiner Mutter, hatte er „Geschichten über die brutalen Strafen seitens der deutschen Offiziere“ gehört, wie er in seiner Rede ebenso hervorhob wie das Bedauern darüber, dass sich Deutschland zwar seit einiger Zeit des Völkermords an Nama und Herero in Südwestafrika besinne, erst seit kurzem aber der Massenvernichtung an der ostafrikanischen Bevölkerung während des Maji-Maji-Aufstand 1905 zum einen und während der Kämpfe im Ersten Weltkrieg zum anderen.

Mag Gurnahs Roman „Nachleben“ ein historischer Roman geworden sein, seiner Handlung kommt indes eine besondere Aktualität bei. Die Entschuldigung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich seines jüngsten Besuchs in Tansania sei eine wiederentdeckte Erinnerung und „ein erster Schritt zu Verständigung und Versöhnung“, sagte Gurnah.

Und damit zeigte sich Gurnah in seiner prägnanten wie bisweilen auch ironischen Rede zukunftsweisender als etwa Wissenschaftsministerin Petra Olschowski, die in ihrer Einführung mit Verweis auf den Krieg in Nahost vor Antisemitismus und Rassismus warnte und anstelle von Schillers Liebesgedicht aus dessen „Jungfrau von Orleans“ zitierte und damit das Lauern des Unheils in der Gegenwart beschrieb: „Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister, Sie liegen wartend unter dünner Decke“.

Literatur verändert die Perspektive

Literatur, sagte Gurnah einst bei der Entgegennahme des Nobelpreises, hat die Kraft, einer dominanten Perspektive eine neue Wendung zu geben. Genau dieser andere Blick ist erforderlich, um über den Alltag hinaus die Kraft für ein Zusammenleben in Frieden imaginieren zu können.

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