Geburtstag

Schau zum 90. Geburtstag von Gerd Reutter im Mannheimer Herschelbad

Von 
Christel Heybrock
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Verschlossenes Tor: Gerd Reutters „Einreise“ (2016). © Manfred Rinderspacher

Am 14. Juli wird er 90, aber die Geburtstagsschau wird schon am Samstag eröffnet. Veranstaltet vom Kulturverein Industrietempel, den Gerd Reutter (Bild) selbst mitgründete, wird Oberbürgermeister Peter Kurz die Eröffnungsrede und Kunsthallendirektor Johan Holten die Einführung halten. Industrietempel – das bedeutet Ausstellungsorte jenseits des normalen Betriebs, und in diesem Fall finden sich Reutters Tonplastiken im Herschelbad. Organisiert von seinem Sohn, dem Journalist Thomas Reutter, ist es eine Versammlung älterer, aber auch neuer Stücke geworden, und angesichts des fortschreitenden Alters fragt man sich doch, woher der Künstler noch die Energie für derart schwere Arbeiten nimmt, denen man zwar ihr Gewicht nicht ansieht, die er aber immer selber gebrannt hat.

Und weit entfernt von altersgemäßer Distanz dem brausenden Leben gegenüber, scheint Reutter sich gerade in den letzten Jahren mit aktuellen soziopolitischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Ohne dass jemals die menschliche Figur in seinen Arbeiten auftaucht, geht es um nichts anderes als um den Menschen, um seine Gefährdung, seine erschütterte Balance, seine Unbehaustheit. Viele Arbeiten geraten angesichts des Flüchtlingselends in die Nähe einer neuerlichen Existenzphilosophie – freilich ohne den Anspruch philosophischer Abstraktion. Im Gegenteil, die Treppen, Gänge, Ruinen, aufragenden oder gestürzten Bauteile, sie haben etwas Archaisches, Einfaches, sie lassen ihre einstige Schutzfunktion noch ahnen als etwas, was verlorenging durch mutwillige Zerstörung oder den Lauf der Geschichte.

Das scheinbar Archaische ist also nur zu aktuell, Reutter überspannt Jahrtausende mit einer mehrteiligen Tonplastik wie „Aleppo“ (2017), die aus verbrannten Gebäuderesten zu bestehen scheint. Die zweitgrößte Stadt Syriens, die schon zu Zeiten von Hammurabi existierte, hat immer wieder Eroberungen und Zerstörungen erlebt, und es dürfte dort nicht erst 2016 so ausgesehen haben wie auf Reutters Kunstwerk. Auch angesichts von Arbeiten wie „Einreise“ oder „Save Our Souls“ (beide 2016), die unausgesprochen die Not der Flüchtlinge thematisieren, fragt man sich, ob es nur die Architekturfragmente in Reutters Werken sind, die archaisch anmuten, oder ob das Bedürfnis nach Schutz, Vertrautheit und Sicherheit nicht zu den archaischen Voraussetzungen menschlicher Existenz gehört. Die unaufdringlich, aber spürbar formulierte Aussage einer fundamentalen Gefährdung dürfte eine Kernaussage vor allem von Reutters neueren Arbeiten sein.

Die Aussage einer Unmöglichkeit wie bei „Einreise“, einem Werk, das aus einer brutal versperrten Toröffnung besteht, kündigt sich an etwa bei dem zersplitterten Rundbogen der „Baustelle“ (2002/03) oder der eindrucksvollen „Letzten Stufe“ (2003), einem fast ein Meter hohen schmalen Tonobjekt, auf dem in unerreichbarer Höhe ein weißer Stuhl steht. Jeder Mensch, der die Erfahrung eines verlorenen Zuhauses machen musste, wird Werke wie „Vor Umsiedelung“ (2006) aus Stufen, Türmen und zerborstenen Wänden sofort verstehen, ebenso wie das langgestreckte „Und wohin“ (2012) mit seiner ziellosen Aussichtslosigkeit. Reutter scheut sich auch nicht, die katholische Kirche aufs Korn zu nehmen: „Neugestaltung“ heißt ein kathedralenartiges Objekt aus Ton, in dessen ruinösen Türmen vier reale Orgelpfeifen stecken. Reutter, der erst mit 60 Jahren die Kunst für sich entdeckte, ist mit seinen Ideen noch lange nicht fertig.

Freie Autorin MM Kulturredaktion 1974-2001, Fachgebiet Bildende Kunst

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