Mannheim. Nicole Johänntgen kehrt für ein Konzert am 15. Februar in ihre frühere langjährige Wirkungsstätte Mannheim zurück. Im Ella & Louis spielt die Saxofonistin, die sich für die Belange von Musikerinnen engagiert, mit der Frauenband Sisters in Jazz. Im Interview spricht sie Benachteiligungen und Übergriffe und wie man beides verhindern kann.
Frau Johänntgen, was ist Ihre Motivation, mit der Frauenband Sisters in Jazz zu spielen: Wollen Sie damit ein Zeichen setzen? Oder sind es einfach gute Freundinnen, mit denen Sie auftreten?
Nicole Johänntgen: Die kurze Antwort: Letzteres. Die eigentliche Geschichte ist aber länger. 2003, als ich noch in Mannheim studierte, hatte ich mich bei der amerikanischen Vereinigung IAJE beworben, der International Association for Jazz Education, die große Jazztreffen organisierte. Die hatten das Programm Sisters in Jazz ins Leben gerufen, das es jetzt wieder gibt: eine Workshop-Band, für die Frauen sich international bewerben können, die dann von einer Jury ausgewählt werden. 2003 war ich dabei, als einzige Europäerin.
Die Band, mit der Sie in Mannheim spielen ist dann so etwas wie der europäische Ableger?
Johänntgen: Ja. Ich fand Sisters in Jazz superspannend. Für mich war das wie das Olympische Feuer, ich habe die Fackel dann weitergetragen. Ich habe mir gedacht: Warum soll ich das nicht in Europa aufleben lassen, mit einem anderen Namen und in Form eines Business-Workshops für Musikerinnen plus Konzert. So habe ich 2013 SOFIA gegründet, Support Of Female Improvising Artists. 2015 habe ich die europäischen Sisters in Jazz initiiert, wir haben auch eine CD veröffentlicht. Das war ein voller Erfolg, und in erster Linie ist es schön, einfach Freundinnen wieder zu sehen, wir wohnen ja alle weit voneinander entfernt. Der Austausch auf der musikalischen und persönlichen Ebene ist sehr groß.
Musik ist ein Bereich, in dem alle eine Stimme haben dürfen.
Ist es etwas anderes, wenn Sie mit einer Frauenband spielen? Ist das Verhältnis kollegialer?
Johänntgen: Es ist superkollegial. Es dauert keine fünf Minuten und dann sprechen wir über Privates, die Familie, was uns beschäftigt. Die Verbundenheit zwischen uns Frauen ist, wenn wir auf Tour sind, riesig. Das Verhältnis ist einfach sehr intensiv. Da wird über alles gesprochen.
Ein großes Thema im Jazz ist die Benachteiligung von Frauen. Können Sie die bestätigen?
Johänntgen: Im pädagogischen Bereich muss man ganz klar aufräumen und neue Konzepte entwickeln. Bei den Studierenden gibt es ganz viele Menschen, die im System anecken, sich nicht wohlfühlen. Denen muss man Gehör verschaffen. Vor allem an den Hochschulen wünschte ich mir, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ausgeglichener ist. Musik ist ein Bereich, in dem alle eine Stimme haben dürfen.
Haben Sie in Ihrer Karriere Benachteiligungen oder Belästigungen erfahren?
Johänntgen: Dadurch, dass ich in den sozialen Medien so präsent bin und viele Videos poste, bietet das eine Plattform für viele schräge Menschen. Verbale Übergriffe gibt es da non-stop.
Wie bitte?
Johänntgen: Ja, ich bin da sehr am Blockieren und Löschen. Ich werde wohl die Kommentarfunktion komplett deaktivieren müssen. Vor allem auf Tik Tok gehen viele Kommentare unter die Gürtellinie. Das sind schon auf verbale Weise sexuelle Übergriffe. Da fällt mir noch was ein: In New Orleans saß ich mal mit meinem Saxofon auf einer Treppe für eine Fotosession. Dann kam ein älterer Herr vorbei und fragte: „Können sie das Ding überhaupt spielen?“ Er ging einfach davon aus, dass ich das Instrument gar nicht spielen kann, sondern nur da sitze und schön aussehen will. Das zeigt schon, was so ein Mensch in mich hineininterpretiert.
Infos zu Nicole Johänntgen
- Die gebürtige Saarländerin Nicole Johänntgen, geboren 1981, zählt zu den profiliertesten Saxofonstimmen der europäischen Szene.
- Nach ihrem Studium in Mannheim zog sie 2005 nach Zürich.
- Sie hat 16 Alben veröffentlicht, die meisten auf ihrem eigenen Label. Besonders populär ist ihr New-Orleans-Quartett Henry. Sie leitet aber auch ein Trio, die Latin-Band Robin, und gibt Solokonzerte.
- Johänntgen engagiert sich für Frauen im Jazz. 2013 gründete sie die Initiative SOFIA als Ausbildungsprogramm für Musikerinnen. 2015 initiierte sie das europäische Netzwerk Sisters in Jazz.
- Konzerte in der Region: 15. Februar, 20 Uhr, mit Sisters in Jazz, Ella & Louis (ausverkauft). 2. März, 20 Uhr: Duo mit Wolfgang Muthspiel, BASF-Gesellschaftshaus. 30. Mai, 20 Uhr: mit Thomas Siffling, Rosengarten.
Ich habe auch erlebt, dass mich ein Kollege für ein Festival anfragte, das Frauen in den Vordergrund stellte. Er schrieb mir dann: „Liebe Nicole, ich möchte dich gerne als Frau anfragen, ob du Lust hättest, mit mir zu spielen.“ (lacht) Ich habe das so stehen lassen, aber es hat mich gefuchst, dass man über das Geschlecht definiert wird und nicht durch die Musik.
Kam es jemals zu sexuellen Übergriffen?
Johänntgen: Ja, ich habe körperliche Übergriffe erlebt. Ein bekannter Jazzmusiker hat mal beim Hallo sagen seine Hand bei mir auf den Po gelegt.
Oh nein!
Johänntgen: Das ist gruselig, nicht wahr? Ich war völlig baff. Oder der Veranstalter, der einem einen Kuss auf die Haare gibt - das geht auch nicht. Ich habe schon ein Problem damit, wenn mir jemand zuzwinkert. Das ist meiner Meinung nach auch grenzwertig, das passiert bei Tontechnikern gegenüber Musikerinnen, bei Veranstaltern. Mir ist das zu übergriffig.
Wie kann man sich gegen solche Vorkommnisse wappnen?
Johänntgen: Im ersten Moment stehst du unter Schock. Aber das trainieren wir bei Kursen mit SOFIA: Wie man in Situationen reagiert, in denen man sich völlig überrumpelt fühlt. Das muss man trainieren. Um vorbereitet zu sein, wenn so ein Übergriff verbal oder körperlich tatsächlich passiert. Deswegen mache ich SOFIA und Sisters in Jazz: Das ist wie eine Welle, obwohl ich nicht mehr bei allen Tourneen von Sisters in Jazz dabei bin. Es sollen und müssen sich noch viele solche Formationen gründen.
Sie finden es also gut, dass es vermehrt Frauen-Bands gibt wie Artemis, die ja auf Blue Note Records veröffentlichen und dadurch sehr viel Publicity bekommen?
Johänntgen: Auf jeden Fall. Man bündelt dadurch ja viel Kraft, und die Presse schreibt darüber. Das ist der nächste Punkt: Solche Initiativen müssen verbreitet werden. Je mehr weibliche Vorbilder es gibt, desto größer ist die Chance, dass man diese Kluft zwischen Musikschule und Hochschulstudium überwindet. Im Moment ist es immer noch so, dass zwar sehr viele Frauen Musikschulen besuchen, aber dann den Sprung zur Hochschule nicht machen. Und da muss man ansetzen, das muss sich ändern.
In Norwegen gibt es zum Beispiel ein Girls Camp mit der Dozentin Hildegunn Øyseth, in dem Frauen kurz vor dem Studium, die noch nicht genau wissen, ob sie studieren wollen, gecoacht werden. Ich glaube, fünfzig Prozent der Teilnehmerinnen gehen dann auch im Schnitt an eine Hochschule.
Würden Sie eigentlich eine Frauen-Quote bei Festivals befürworten?
Johänntgen: Ich fände einen Frauenanteil von fünfzig Prozent gut. Ich würde die Schraube sogar noch weiter drehen: Ich würde auch die Förder-Institutionen und Sponsoren verpflichten, zu fünfzig Prozent Frauen zu fördern, bei Projekten, Workshops und Festivals. Außerdem geht es darum, bewusst zu sprechen. Zu oft gibt es den Spruch, wenn man sich als Frau für Konzerte bewirbt: „Kann sie spielen?“ Ich muss mir darüber bewusst sein, was meine Worte beim Gegenüber bewirken, darauf achten, dass ich niemanden verletze. Auf der Bühne, aber auch im alltäglichen Leben. Wenn wir respektvoller miteinander reden würden, hätten wir weniger Probleme.
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